Keine Frage, verschiedene Senate des BGH haben sich um Fragen des anwaltlichen Vergütungsrechts verdient gemacht. Gerade die Einführung des RVG zum 1.7.2004 führte in Rspr. und Lit. zu Irrungen und Wirrungen, die teilweise jedenfalls für diejenigen nicht verständlich waren, die für sich in Anspruch nehmen, die deutsche Sprache zu beherrschen. Gerade der BGH war es, der – wenngleich auch nicht immer – die Dinge klarstellte und der Anwaltschaft half, die Gebührenansprüche in der Höhe durchzusetzen, die der Gesetzgeber nun einmal für sie vorgesehen hatte.[1]

Dass es auch in der Entscheidungspraxis des BGH immer wieder zu Fehlentscheidungen kam, die teilweise gravierende Auswirkungen hatten und durch den Gesetzgeber behoben werden mussten, ist ebenfalls bekannt.[2] Insgesamt wird man aber feststellen können, dass sich das RVG grundsätzlich beim BGH gut aufgehoben fühlen darf, weshalb es zu einer Frage der geistigen Hygiene zählen sollte, dessen Rspr. nicht nur dort zu kritisieren, wo sie anwaltsfreundlich daher kommt, sondern auch dort, wo sie – durchaus anwaltsfreundlich – neue Irrungen und Wirrungen auszulösen imstande ist.

Nachdem der IX. Senat sich wohl zur Überraschung aller über die einhellige Auffassung in der Lit. und der bisherigen Rspr. zumindest augenscheinlich hinweggesetzt hatte, dass die Anm. zu Nr. 2300 VV jegliche Anwendung von Toleranz-Rechtsprechung verbietet, legt der VI. Senat durch die Entscheidung vom 8.5.2012 nunmehr nach und führt die Anm. zu Nr. 2300 VV – zumindest auf den ersten Blick – endgültig ad absurdum.

Nach der ersten Entscheidung des IX. Senats waren sich alle Gebührenrechtler und auch die Gebührenreferenten der Rechtsanwaltskammern einig darüber, dass die Entscheidung mit dem Gesetzestext nicht kompatibel ist. In der Folgezeit wurde die Entscheidung in Gebührengutachten, ob von den Parteien thematisiert oder nicht, zwar erwähnt, aber als falsch und nicht vertretbar dargestellt, mit der Folge, dass es den Untergerichten überlassen blieb, sich mit der Rechtsfrage letztendlich auseinanderzusetzen. Erfreulicherweise haben sich einige Gerichte einer solchen Beurteilung angeschlossen und zutreffend darauf hingewiesen, dass der klare Gesetzestext der Anm. zu Nr. 2300 VV es verbiete, dem Rechtsanwalt auch hier noch Toleranzmöglichkeiten zu eröffnen.[3]

Der VI. Senat ist nunmehr solchen Entscheidungen mit bemerkenswert kurzer Begründung entgegengetreten und will offenbar verdeutlichen, dass die Entscheidung des IX. Senats keineswegs ein Versehen war.

Mit der grundsätzlich in dieser Klarheit zu begrüßenden Bestätigung der jahrzehntelangen Toleranzrechtsprechung bei der Bestimmung von Rahmengebühren setzt sich der VI. Senat – insoweit notgedrungen wesentlich gründlicher als der IX. Senat – mit der Frage auseinander, ob die Toleranzrechtsprechung vor der Anm. zu Nr. 2300 VV "Halt machen" muss.

Dabei bestätigt der BGH – ob nun willentlich oder nicht – die ganz h. A., dass die Regelgebühr von 1,3 nur dort überschritten werden darf, wo Umfang und/oder Schwierigkeitsgrad der anwaltlichen Tätigkeit durchschnittliche Verhältnisse überschreitet.[4] Alsdann gelangt er – möglicherweise nur auf den ersten Blick – zu der Feststellung, dass dem Rechtsanwalt auch bei der Bewertung von einzelnen Kriterien von § 14 Abs. 1 RVG ein Ermessensspielraum zustehe, die irrtümliche Überbewertung der Schwierigkeit und/oder des Umfanges der eigenen anwaltlichen Tätigkeit somit unschädlich sei. Begnüge sich der Rechtsanwalt also mit der Mittelgebühr von 1,5 und überschreite er damit die Regelgebühr von 1,3 um nicht mehr als 20 %, sei die Bemessung der Rahmengebühr nicht zu beanstanden.

Will man die Entscheidung des VI. Senats so verstehen, ist dies sicherlich nicht zutreffend. Die Toleranzrechtsprechung soll dem Rechtsanwalt erklärtermaßen nur dort weiterhelfen, wo er sein Ermessen insgesamt fehlerhaft, aber noch innerhalb des Toleranzrahmens ausübt. Nur dort, wo die Gesamtbewertung möglicherweise ermessensfehlerhaft aber noch innerhalb des Toleranzrahmens sich bewegend vorzufinden ist und eine Beschränkung auf 1,3 aufgrund der Anmerkung nicht in Betracht kommt, ist beispielsweise eine Berechnung von 1,8 statt der eigentlich berechtigten 1,5 zu akzeptieren.

Zunächst einmal sind sämtliche Bewertungskriterien bei der Bemessung der Rahmengebühr zu würdigen, nach Gegenüberstellung aller Bewertungskriterien eine Gebühr zu bestimmen und erst anschließend ist festzustellen, ob den Bewertungskriterien Schwierigkeitsgrad und Umfang der anwaltlichen Tätigkeit ein zumindest leicht überdurchschnittlicher Charakter zukommt.

Ist letzteres nicht der Fall – und hier steht dem Rechtsanwalt nach bisheriger einhelliger Auffassung kein Toleranzrahmen zu – ist die Gebühr zu kappen.

Ein wenig erinnert die Anm. zu Nr. 2300 VV an die Kappungsgrenze von § 89b HGB. Gleichgültig wie die Rohausgleichsberechnung vorgenommen wird, und wie sich dort die Berücksichtigung von Abwanderungsquote, Billigkeitsgesichtspunkten und Sogwirkung der Marke auswirkt, di...

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