Leitsatz

  1. Beratungshilfe darf versagt werden, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden (vgl. BVerfG v. 11.5.2009 – 1 BvR 1517/08, BVerfGK 15, 438, 444). Die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde stellt jedoch keine zumutbare Möglichkeit der Selbsthilfe dar und verletzt das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit (vgl. BVerfGK 15, 438, 444; BVerfG v. 6.9.2010 – 1 BvR 440/10, BVerfGK 18, 10, 13).
  2. Hier:
  3. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Versagung von Beratungshilfe für einen Widerspruch bzgl. Leistungen der Rentenversicherung zur medizinischen Rehabilitation.
  4. Die angegriffenen Entscheidungen stützen sich auf pauschale Erwägungen, ohne einzelfallbezogen zu prüfen, ob ein bemittelter Rechtsuchender die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe für das Widerspruchsverfahren in Betracht ziehen würde. Dabei wird u.a. verkannt, dass nicht allein schon die Einlegung des Widerspruchs, sondern dessen sorgfältige Begründung erfolgsrelevant für das Widerspruchsverfahren ist.

BVerfG, Beschl. v. 7.10.2015 – 1 BvR 1962/11

1 Sachverhalt

1. Der Beschwerdeführer beantragte über seinen Bevollmächtigten beim AG die nachträgliche Gewährung von Beratungshilfe für einen Widerspruch gegen die beigefügte Ablehnung seines Antrags auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Deutsche Rentenversicherung. Er wies darauf hin, dass der Bevollmächtigte den Widerspruch bereits eingelegt habe.

Die Rechtspflegerin beim AG wies den Antrag mit der Begründung zurück, der Beschwerdeführer hätte den Widerspruch selbst vor Ort beim Rentenversicherungsträger schriftlich aufnehmen lassen können. Er versuche, bei jeglichen für ihn unangenehmen Lebenssituationen über die Beratungshilfe einen Rechtsanwalt auf Staatskosten zu beauftragen, so dass von Mutwilligkeit ausgegangen werden könne.

Die hiergegen gerichtete Erinnerung des Beschwerdeführers wurde vom AG mit richterlichem Beschluss als unbegründet verworfen. Zur Begründung führte das AG aus, neben dem Ablehnungsgrund der Mutwilligkeit sei auch der Ablehnungsgrund des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG gegeben. Dem Beschwerdeführer wäre es ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen, den Widerspruch selbst beim Rentenversicherungsträger einzulegen. Damit hätte er in gleicher Weise wie durch die Einlegung des Widerspruchs mittels Anwaltsschreiben die Überprüfung seines Anliegens erreichen können.

2. Mit seiner gegen die beiden Beschlüsse des AG gerichteten Verfassungsbeschwerde, deren Gegenstand er um die Entscheidung des AG über eine parallel hierzu erfolglos erhobene Gegenvorstellung erweitert hat, rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG.

2 Aus den Gründen

II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der zugunsten des Beschwerdeführers durch Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG gewährleisteten Rechtswahrnehmungsgleichheit angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG liegen vor. Das BVerfG hat die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 122, 39, 48 ff.). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

1. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit gem. Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG.

a) Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 u. Abs. 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem BerHG (vgl. BVerfGE 122, 39, 48 ff.). Dabei brauchen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen (vgl. BVerfGE 81, 347, 357; 122, 39, 51). Kostenbewusste Rechtsuchende werden dabei insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfahrensrechte brauchen oder selbst dazu in der Lage sind. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden (vgl. BVerfGK 15, 438, 444). Ob diese zur Beratung notwendig ist oder Rechtsuchende zumutbar (vgl. BVerfG, Beschl. d. 2. Kammer des Ersten Senats v. 9.11.2010 – 1 BvR 787/10, juris Rn 14) auf Selbsthilfe verwiesen werden können, hat das Fachgericht unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls abzuwägen. Insbesondere kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige ...

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