RVG § 15; RVG VV Nr. 4100

Leitsatz

Bei der Erhebung einer Nachtragsanklage und deren Einbeziehung in ein laufendes Verfahren handelt es sich um einen selbstständigen Rechtsfall i.S.d. Anm. Abs. 1 zu Nr. 4100 VV, mithin um eine selbstständige Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG.

OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.12.2017 – 2 Ws 136/17

1 Sachverhalt

Das LG hatte den früheren Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ihm war Rechtsanwalt B. als Pflichtverteidiger beigeordnet worden.

In dem Verfahren hatte die Staatsanwaltschaft unter dem 5.8.2009 Anklage wegen sexuellen Missbrauchs in 33 Fällen in der Zeit von 1991 bis Anfang 2005 erhoben. In der Hauptverhandlung vom 29.7.2010 erhob sie Nachtragsanklage wegen weiterer vier Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der Zeit von 1991 bis 2000. Mit Beschl. v. 24.7.2010 bezog das LG die Nachtragsanklage nach vorheriger Zustimmung durch den früheren Angeklagten in das Verfahren ein.

Nach Abschluss des Verfahrens beantragte der Verteidiger, seine Pflichtverteidigergebühren festzusetzen. Dabei beantragte er für Nachtragsanklage eine gesonderte Grundgebühr, Hauptverfahrensgebühr und Auslagenpauschale.

Die Rechtspflegerin setzte die für die Nachtragsanklage geltend gemachten Gebühren ab.

Die dagegen gerichtete Beschwerde des Verteidigers hatte Erfolg.

2 Aus den Gründen

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Dem Verteidiger stehen auch die für die Nachtragsanklage geltend gemachten Gebühren zu.

Ob dem Verteidiger im Falle der Erhebung einer Nachtragsanklage und deren Einbeziehung in ein laufendes Verfahren dafür eigene Gebühren verlangen kann, hängt davon ab, ob es sich bei der Nachtragsanklage um einen selbstständigen Rechtsfall i.S.d. Anm. 1 zu Nr. 4100 VV, mithin um eine selbstständige Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG handelt (vgl. dazu Burhoff, in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 5. Aufl., Nr. 4100 VV Rn 37). Der Senat bejaht diese Frage.

Entscheidend ist insoweit der strafrechtliche Vorwurf, der dem Angeklagten gemacht wird und die Art und Weise seiner Behandlung durch die Strafverfolgungsbehörden. Dabei gilt im Grundsatz, dass jedes von diesen betriebene Ermittlungsverfahren ein eigenständiger Rechtsfall ist, solange die Verfahren nicht verbunden sind (vgl. Burhoff, a.a.O.). Umgekehrt stellen mehrere Tatvorwürfe in demselben Ermittlungsverfahren dieselbe Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG dar (vgl. Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, 22. Aufl., § 15 Rn 19).

Bei der Nachtragsanklage (§ 266 StPO) besteht die Besonderheit, dass sie ermöglicht, weitere Vorwürfe gegen den Angeklagten in einer bereits laufenden Hauptverhandlung in das Verfahren einzubeziehen. Dies dient der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens sowie auch der Prozesswirtschaftlichkeit (vgl. Stuckenberg, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 266 Rn 1) und erspart dem Angeklagten ein weiteres Verfahren. Dabei ist die Nachtragsanklage die einzige gesetzlich zulässige Möglichkeit, den Gegenstand eines laufenden Hauptverfahrens zu erweitern. Ihre Erhebung steht aber im Ermessen der Staatsanwaltschaft. Sie kann die Verfolgung der neuen Vorwürfe auch einem gesonderten Verfahren vorbehalten (vgl. Stuckenberg, a.a.O. Rn 8). Entscheidet sich die Staatsanwaltschaft für letzteres oder stimmt der Angeklagte einer Einbeziehung der Vorwürfe aus der Nachtragsanklage nicht zu, kann nicht zweifelhaft sein, dass das dann zu führende neue Verfahren eine eigenständige Angelegenheit darstellt.

Die Erhebung der Nachtragsanklage und deren Einbeziehung hängt vom Verhalten der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten ab. Sie stellt eine Ausnahme dar, die ein sonst regelmäßig gesondert zu führendes Verfahren erspart. Es ist keine Rechtfertigung dafür ersichtlich, beides gebührenrechtlich verschieden zu behandeln. Es kann deshalb insoweit nicht darauf ankommen, welches verfahrensmäßige Schicksal neue Tatvorwürfe letztlich nehmen, wenn sie doch im Grundsatz Gegenstand verschiedener Verfahren wären (so im Ergebnis auch Burhoff, RVGreport 2014, 293).

3 Anmerkung

Ich halte diese Entscheidung für unzutreffend. Auch in anderen Verfahrensordnungen kommt es nicht darauf an, was alles alternativ hätte geschehen können, sondern darauf, was geschehen ist. So steht es einem Kläger frei, wegen weiterer Forderungen eine gesonderte Klage zu erheben oder die bestehende Klage zu erweitern. Entscheidet er sich für eine gesonderte Klage, dann liegt auch eine gesonderte Angelegenheit vor. Entscheidet er sich für eine Klageerweiterung, dann liegt nur eine Angelegenheit vor. Warum dies in Strafsachen anders sein soll, will nicht einleuchten. In gerichtlichen Verfahren gilt der Grundsatz: Ein Verfahren = eine Angelegenheit; mehrere Verfahren = mehrere Angelegenheiten. Es besteht kein Grund, diese klare Trennung zu verwässern.

Norbert Schneider

AGS 3/2018, S. 118 - 119

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