II. Die Beschwerde ist gem. § 304 Abs. 1 StPO zulässig.

Gegen die Ablehnung der Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG sieht das RVG keinen besonderen Rechtsbehelf vor. Wird der Erstreckungsantrag abgelehnt, kann der Rechtsanwalt dagegen aus eigenem Recht Beschwerde einlegen (KG StraFo 2012, 292; Gerold/Schmidt/Burhoff, 23. Aufl., 2017, RVG § 48 Rn 211). Für die Anfechtung des die Erstreckung ablehnenden Beschlusses gelten die allgemeinen Regeln (KG, a.a.O.; Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O.).

III. Die Beschwerde erweist sich auch als begründet.

1. Der angefochtene Beschluss ist bereits deshalb aufzuheben, weil die Vorsitzende der Strafkammer für die getroffene Entscheidung funktionell nicht zuständig war. Jedoch führt diese (versehentliche) Verletzung der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung nicht zu einer Zurückverweisung der Sache an das LG, sondern kann der Senat in der Sache selbst entscheiden.

Nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG kann das Gericht bei der Verbindung von Verfahren die Wirkungen des Satzes 1 auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen vor der Verbindung keine Beiordnung oder Bestellung erfolgt war. Nach dem Wortlaut des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG obliegt die Entscheidung über die Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung danach nicht dem Vorsitzenden, auch wenn dieser über die Bestellung des Pflichtverteidigers allein zu entscheiden hat (§ 141 Abs. 4 StPO), sondern dem Gericht. Die Entscheidung über die Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung knüpft an die Verbindung von Verfahren an, über die ebenfalls das Gericht zu entscheiden hat (§ 4 Abs. 1 StPO). In der Sache geht es hierbei nicht um die Pflichtverteidigerbestellung als solche, die ohnehin nicht rückwirkend erfolgen kann (vgl. BGH StV 1988, 378; OLG Düsseldorf StraFo 2003, 94; KG StraFo 2006, 200), sondern um die Bestimmung einer rein vergütungsrechtlichen Rückwirkung (so auch: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2.4.2007 – 3 Ws 94/07, BeckRS 2007, 07914, beck-online).

Dass über den Antrag auf Erstreckung der Wirkungen der Pflichtverteidigerbestellung die Vorsitzende an Stelle der hierzu berufenen Strafkammer entschieden hat, zwingt nicht dazu, die Sache an die funktionell zuständige Strafkammer zurückzuverweisen. Denn der Verfahrensmangel kann im Beschwerdeverfahren in dem Sinne ausgeglichen werden, dass der Senat an die Stelle der an sich zur Entscheidung berufenen Strafkammer tritt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.10.2000 – 3 Ws 395/00; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 11.12.2002 – 3 Ws 229/02; so auch Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O. § 48 Rn 211). Der Senat ist auch das der Strafkammer übergeordnete Beschwerdegericht und kann daher gem. § 309 Abs. 2 StPO in der Sache selbst entscheiden.

2. Die Beschwerde ist auch in der Sache begründet.

a) Die Frage, ob in Fällen wie dem vorliegenden ein Antrag nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG gestellt werden muss, ist umstritten.

Aus dem Wortlaut des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG folgt, dass im Hinblick auf das Verfahren, für das die Beiordnung erfolgt, der Verteidiger aufgrund der Beiordnung auch Pflichtverteidigergebühren für die in diesem Verfahren vor der Beiordnung entfalteten Tätigkeiten verlangen kann.

Nach einer insbesondere in der Lit. und Teilen der obergerichtlichen Rspr. vertretenen Auffassung soll aus § 48 Abs. 6 S. 1 RVG darüber hinaus auch direkt der Vergütungsanspruch für frühere Tätigkeiten in den vor der Beiordnung hinzuverbundenen Verfahren folgen. Der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG ist nach dieser Ansicht auf Fälle beschränkt, in denen nach einer Beiordnung noch weitere Verfahren hinzuverbunden werden (so OLG Hamm, Beschl. v. 16.5.2017 – 1 Ws 95/17, Rn 33 [= AGS 2017, 457]; v. 6.6.2005 – 2 (s) Sbd VIII – 110/05, Rn 7 und 14 [= AGS 2005, 437]; OLG Bremen, Beschl. v. 7.8.2012 – Ws 137/11, Rn 14 f.; KG, Beschl. v. 17.3.2009 – 1 Ws 369/08, Rn 3; OLG Jena, Beschl. v. 12.6.2008 – 1 AR (S) 13/08, Rn 19; jeweils zitiert nach juris; Gerold/Schmidt/Burhoff, 23. Aufl., 2017, RVG § 48 Rn 205; Mayer/Kroiß, RVG, § 48 Rn 127 beck-online; Riedel/Sußbauer/Ahlmann, RVG, 10. Aufl., 2015, RVG § 48 Rn 43; Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, RVG § 48 Rn 61 beck-online). Das LG Lüneburg folgt offenbar dieser Auffassung.

Nach anderer Auffassung gilt die Vorschrift des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG für alle Fälle der Verfahrensverbindung, ungeachtet der zeitlichen Reihenfolge von Verbindung und Beiordnung (so OLG Hamburg, Beschl. v. 20.11.2017 – 2 Ws 179/17, Rn 13; LG Osnabrück, Beschl. v. 13.5.2016 – 10 Qs 27/16; OLG Braunschweig, Beschl. v. 22.4.2014 – 1 Ws 48/14, Rn 31 ff. [= AGS 2014, 402]; OLG Koblenz, Beschl. v. 30.5.2012 – 2 Ws 242/12, Rn 14 ff. [= AGS 2012, 390]; OLG Oldenburg, Beschl. v. 27.12.2010 – 1 Ws 583/10, Rn 7; ähnlich: OLG Rostock, Beschl. v. 27.4.2009 – I Ws 8/09, Rn 8; OLG Celle, Beschl. v. 2.1.2007 – 1 Ws 575/06 – jeweils zitiert nach juris). Das OLG Celle (a.a.O.) hat insoweit ausgeführt, dass die Beiordnungsentscheidung nach § 48 Abs. 5 S. 1 ...

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