Leitsatz

  1. Zur Gewährleistung der Rechtswahrnehmungsgleichheit auch im außergerichtlichen Bereich vgl. BVerfG v. 14.10.2008 – 1 BvR 2310/06, BVerfGE 122, 39 (50).
  2. Ob Rechtsuchende zumutbar auf Möglichkeiten der Selbsthilfe verwiesen werden können, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (dazu BVerfG v. 11.5.2009 – 1 BvR 1517/08, BVerfGK 15, 438 <444>). Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde (vgl. BVerfGK 15, 438 <444>; BVerfG v. 30.6.2009 – 1 BvR 470/09, BVerfGK 15, 585 <586>; BVerfG v. 6.9.2010 – 1 BvR 440/10, BVerfGK 18, 10 <13>).
  3. Erledigt sich ein Beratungshilfeantrag nicht durch Hinweis des Gerichts bzw. des Rechtspflegers, so muss der Antrag nach § 5 BeratHiG i.V.m. §§ 38, 39 FamFG beschieden werden. Anderenfalls wird der Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit verkannt und sowohl der Zugang des Rechtsuchenden zur beabsichtigten Rechtsverfolgung als auch die Durchsetzung des Anspruchs auf Beratungshilfe ohne sachlichen Grund erschwert.
  4. Hier: Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG durch Nichtbescheidung eines Beratungshilfeantrags sowie durch Nichtabhilfe durch das AG.
  5. Da die Beschwerdeführerin ausdrücklich einen Beratungshilfeschein für die Konsultation eines Rechtsanwalts beantragte, hatte sich ihr Begehren nicht bereits nach § 3 Abs. 2 BerHG durch die Hinweise des Rechtspflegers oder des Gerichts erledigt.
  6. Angesichts der im Ausgangsverfahren aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen Fragen durfte die Beschwerdeführerin auch nicht auf die Möglichkeit der Einlegung eines Widerspruchs verwiesen werden.
  7. Zudem hätte der Beratungshilfeantrag der Beschwerdeführerin durch einen begründeten und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Beschluss beschieden werden müssen.

BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 29.4.2015 – 1 BvR 1849/11

1 Aus den Gründen

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährung von Beratungshilfe für ein sozialrechtliches Widerspruchsverfahren.

I. Für die Einlegung eines Widerspruchs gegen die Ablehnung ihres Antrags auf eine Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beantragte die Beschwerdeführerin beim AG einen Berechtigungsschein für eine anwaltliche Beratung nach dem BerHG. Der Rechtspfleger beim AG wies die Beschwerdeführerin mündlich darauf hin, dass sie schriftlich oder zur Niederschrift Widerspruch bei der Rentenversicherung einlegen oder sich an die im Bescheid genannte Auskunfts- und Beratungsstelle der Rentenversicherung wenden könne. Er stellte weder einen Berechtigungsschein aus, noch beschied er den Antrag förmlich.

Noch am selben Tag legte die Beschwerdeführerin "Erinnerung, hilfsweise Beschwerde" beim AG ein, mit der sie konkret darlegte, aus welchen Gründen sie Widerspruch erheben wolle und aufgrund welcher Erkrankungen sie nicht in der Lage sei, das Widerspruchsverfahren ohne anwaltlichen Beistand zu betreiben. Die Richterin beim AG wies die Erinnerung zurück. Beratungshilfe sei nicht abgelehnt, sondern durch die Hinweise des Rechtspflegers gewährt worden. Die Sache sei damit gem. § 3 Abs. 2 BerHG erledigt. Eine Bescheidung einer Ablehnung komme daher nicht in Betracht.

Die Beschwerdeführerin richtete daraufhin einen als "Beschwerde" überschriebenen Schriftsatz an das AG, in dem sie ausdrücklich eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die Verweigerung von Beratungshilfe rügte. Das AG half dem Rechtsbehelf nicht ab, weil es ihn für unzulässig hielt, und legte ihn dem LG vor, das im Hinblick auf die laufende Verfassungsbeschwerde bis heute nicht entschieden hat.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 103 Abs. 1 GG und aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG sowie einen Verstoß gegen die Rechtsweggarantie. Im Übrigen erschwere die Praxis des AG, die Beratungshilfe mündlich zu verweigern statt eine schriftliche Ablehnung zu erlassen, die weitere Rechtsverfolgung und verstoße deswegen gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Diese Vorgehensweise sei willkürlich und verletze Art. 103 Abs. 1 GG.

Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat zum Verfahren Stellung genommen.

II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b) BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage, welche Anforderungen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit an die Gewährung von Beratungshilfe für den außergerichtlichen Rechtsschutz stellt, ist durch das BVerfG bereits entschieden (vgl. BVerfGE 122, 39 <48 ff.>).

Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.

1. Der Beschluss verstößt gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit.

a) Die Auslegung und Anwendung des BerHG o...

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