A. Grundlagen

 

Rz. 1

Ohne Weiteres ist davon auszugehen, dass das Führen eines Kfz im öffentlichen Straßenverkehr unter die Fahrtauglichkeit einschränkenden Gesundheitsbeeinträchtigungen erhebliche Gefahren für hochrangige Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer in sich birgt:

§ 11 Abs. 2 S. 2 FeV i.V.m. Anlage 4 oder 5 zur FeV: In Anlage 4 zu §§ 11, 13, 14 FeV und Anlage 5 werden ausdrücklich Erkrankungen genannt, die regelmäßig zu Bedenken Anlass geben. Die Aufzählung in den Anlagen 4/5 sind aber nicht abschließend (§ 11 Abs. 1 S. 2 FeV).
Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung:[1] Sie beinhalten nähere Erläuterungen zu den in Anlage 4 benannten Erkrankungen (S. 17 ff.).

In Anlage 4 zur FeV geregelte Einzelfälle:

mangelndes Sehvermögen (Anlage 4, Punkt 1 mit Verweis auf Anlage 6 zur FeV)[2]
Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit (Anlage 4, Punkt 2)[3]
Bewegungsbehinderungen (Anlage 4, Punkt 3)[4]
Herz- und Gefäßerkrankungen (Anlage 4, Punkt 4)[5]
Zuckerkrankheit (Anlage 4, Punkt 5)[6]
Krankheiten des Nervensystems (Anlage 4, Punkt 6)[7]
psychische (geistige) Störungen (Anlage 4, Punkt 7)[8]
Nierenerkrankungen (Anlage 4, Punkt 10)[9]
Organtransplantationen (Anlage 4, Punkt 11.1)[10]
Tagesschläfrigkeit (Anlage 4, Punkt 11.2)[11]
Lungen- und Bronchialerkrankungen (Anlage 4, Punkt 11.3)[12]
Störung des Gleichgewichtssinns[13]
 

Rz. 2

Da die Anlagen 4 und 5 nicht abschließend sind (§ 11 Abs. 1 S. 2 FeV), ist es durchaus denkbar, dass beim Betroffenen eine über diese Kataloge hinaus gehende Krankheit vorliegt. Handelt es sich nicht um eine in Anlage 4 oder 5 zur FeV genannte Erkrankung (wie z.B. eine Magersucht [Anorexia nervosa][14] sowie depressive Störung), so ist zu prüfen, ob ein Fall des § 11 Abs. 2 S. 1 FeV vorliegt. Dann ist eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob ein ärztliches Gutachten eingeholt werden soll. Aufgrund eines solchen Gutachtens kann dann bei weiterem Aufklärungsbedarf – unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – ein medizinisches Gutachten einzuholen sein.[15]

 

Rz. 3

Die Anforderungen an das Sehvermögen, insbesondere für die Klassen C, C 1, CE, C1E, D, D1, DE oder D1E, sind mit höherrangigem Recht, insbesondere mit Europarecht vereinbar. Diese Bedingungen verstoßen insbesondere nicht gegen Art. 20 (Gleichbehandlung), Art. 21 Abs. 1 (Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung) und Art. 26 (Anspruch behinderter Menschen auf Gewährleistung ihrer beruflichen Eingliederung) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.[16] Wird einem FE-Inhaber diese entzogen und gelten im Zeitpunkt der Wiedererteilung strengere Eignungsvorschriften, so besteht kein Bestandsschutz, da die ursprünglich erteilte FE erloschen war. Bestandsschutz hinsichtlich der Anforderungen an das Sehvermögen nach § 76 Nr. 9 FeV wie auch Nr. 2.2.3 der Anlage 6 zur FeV besteht nur hinsichtlich der weiter geltenden erteilten Fahrerlaubnisse; mit dem Entzug ist die FE erloschen und ein Bestandsschutz hieran entfallen.[17]

 

Rz. 4

Da es sich nur um die Feststellung medizinischer Umstände handelt, ist grundsätzlich nur die Anordnung zur Beibringung eines medizinischen Facharztgutachtens gerechtfertigt (§ 11 Abs. 2 S. 1 FeV). Auch das ist nicht zwingend; § 11 Abs. 2 S. 1 FeV ist eine Ermessensvorschrift ("kann"). Die Verkehrsbehörde muss also begründen, warum sie eine Gutachtensbeibringung für geboten hält. Erst wenn nach Würdigung eines fachärztlichen Gutachtens ein medizinisch-psychologisches Gutachten von der Behörde für erforderlich gehalten wird, kann (Ermessen!) nach § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 FeV die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden. Das wird aber bei rein medizinischen Fragestellungen in der Regel ausgeschlossen werden können. Bei der Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens durch die Behörde muss in diesen Fällen die erforderliche Begründung besonders kritisch geprüft werden.

 

Rz. 5

Gemäß § 11 Abs. 3 FeV könnte – auch wiederum unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – auch ein medizinisch-psychologisches Gutachten notwendig sein.

 

Rz. 6

Die Erfüllung der körperlichen und geistigen Anforderungen an die Kraftfahreignung ist für die Verkehrssicherheit essentiell. Zwar manifestieren sich mögliche Eignungsmängel in erster Linie im strafrechtlichen Bereich, wenn es um die Aufklärung "rätselhafter Verkehrsunfälle" geht.[18] Die Verwaltungsbehörden haben – wenn nicht der Vorrang des Strafverfahrens greift, § 3 Abs. 3 S. 1 StVG – diesen Eignungsmängeln in einem Entzugs- oder Wiedererteilungsverfahren nachzugehen.

 

Rz. 7

Fällt eine Kraftfahrerin der Polizei nach einem Verkehrsunfall u.a. dadurch auf, dass die Betroffene stark unterernährt, stark unkonzentriert und in der Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt ist, dass die Bewegungsabläufe unkoordiniert wirken, und gibt sie weiterhin an, dass sie sich wegen Essstörungen in psychiatrischer Behandlung befindet, so bestehen Bedenken gegen die Fa...

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