Rz. 62

Nach wie vor wird immer wieder vorgetragen, dass der testierunfähige Erblasser aufgrund eines sogenannten "luziden Intervalls" fähig war, eine wirksame Verfügung von Todes wegen zu errichten.[115] Dies überzeugt nicht.[116] Die juristische Literatur hat im Gegensatz zur medizinischen nicht zwischen den jahrhundertelangen Begriffsentwicklungen unterschieden. Unter einem "luziden Intervall" verstand man in der Medizin ursprünglich monate- bis jahrelang andauernde symptomfreie Intervalle bei phasenhaft verlaufenden Psychosen.[117] Erst ab dem 19. Jahrhundert wurde der Begriff für kurzdauernde Zustandsverbesserungen während eines chronischen Krankheitsprozesses verwandt.[118]

 

Rz. 63

Eine unter günstigen Umständen und bei entsprechender Behandlung allmählich über Monate eintretende Verbesserung oder sogar Zurückbildung einer länger verlaufenden Erkrankung hat nichts mit einem sogenannten "luziden Intervall" zu tun. Im Fall einer Demenz ist zusätzlich von Bedeutung, dass während der Zeit ihres Bestehens viele Informationen häufig gar nicht oder nicht realitätsgerecht aufgenommen, verarbeitet und abgespeichert werden. Folglich bestünden im Besserungsfalle in der geistigen und psychischen Repräsentanz erhebliche Lücken, welche zunächst geschlossen werden müssten,[119] was wiederum eine Einflussnahme Dritter in unkontrollierbarer Weise begünstigte.

 

Rz. 64

Die moderne Medizin hält die sogenannten "luzide Intervalle" bei chronisch-krankhaften Störungen der Geistestätigkeit, wie bei einer chronisch-progredienten Demenz, für ausgeschlossen.[120] Eine kurzzeitige Besserung kann bei schon eingetretenen Beeinträchtigungen der geistigen Fähigkeiten hingegen nicht ausgeschlossen werden.[121] Eine Normalisierung des Zustandes kann jedoch nicht erwartet werden.

 

Rz. 65

Letztendlich sind bei einem wegen geistiger Insuffizienz testierunfähigen Erblassers "luzide Intervalle", aufgrund derer vor und nach Testamentserrichtung kurzzeitig eine Testierfähigkeit gegeben sein sollte, kaum nachweisbar.[122] Bei Vorliegen eines mittelschweren bis schwer ausgeprägten demenziellen Syndroms sind kurzfristige "luzide Intervalle" mit Wiedererlangen der Kritik- und Urteilsfähigkeit überhaupt nicht in Betracht zu ziehen. Werden diese dennoch behauptet, so müsste der positive Nachweis hierfür erbracht werden, wenn zuvor das Vorliegen der Voraussetzungen für Testierunfähigkeit belegt wurde.[123] Wiederkehrende wesentliche Zustandsverbesserungen sind lediglich bei Delirien, Verwirrtheitszuständen oder Vergiftungen und phasenhaft verlaufenden Psychosen ohne dauerhafte Hirnveränderungen zu erwarten.[124]

 

Rz. 66

Alleine für den Fall, dass der Zustand des Erblassers bei einzelnen Erkrankungen mit Hirnbeteiligung zwischen klaren Momenten und Verwirrtheit wechselt oder er an starken Schwankungen des geistigen Zustandes leidet (somit keine chronisch-krankhafte Störung der Geistestätigkeit vorliegt), kann sein in einem "luziden Intervall" errichtetes Testament wirksam sein, wenn der Errichtungszeitpunkt und das "luzide Intervall" (oder zutreffender im Zeitpunkt einer wieder normalisierten Geistestätigkeit) zu diesem Zeitpunkt feststehen[125] und die Beeinträchtigung wirklich im Einzelfall nur eine vorübergehende war.[126]

Zu unterscheiden ist hiervon eine immer möglich kurzzeitige Schwankung der geistigen Fähigkeiten aufgrund einer adäquaten Behandlung der körperlichen Grunderkrankungen eines multimorbiden Betroffenen ohne strukturelle Hirnschädigung.[127]

[115] MüKo/Hagena, § 2229 Rn 26.
[116] OLG Hamburg, ErbR 2019, 35, 45 = ZErb 2018, 280.
[117] Losch, ZErb 2017, 188, 192; Foerster, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.) Psychiatrische Begutachtung, Kapitel 27, S. 573, 27.3.2.
[118] Ausführlicher m.w.V.: Losch, ZErb 2017 188, 192.
[119] OLG München FamRZ 2014, 246, 247 = ZErb 2013, 236.
[120] Staudinger/Baumann, § 2229 Rn 41.
[121] Wetterling, Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen, S. 201.
[122] MüKo/Hagena, § 2229 Rn 26.
[123] OLG Hamm ErbR 2018, 210, 213; Foerster, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.) Psychiatrische Begutachtung, Kapitel 27, S. 573, 27.3.2.
[124] Foerster, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.) Psychiatrische Begutachtung, Kapitel 27, S. 573, 27.3.2.
[125] Palandt/Weidlich, § 2229, Rn 10.
[126] Losch, ZErb 2017 188, 192.
[127] Losch, ZErb 2017 188, 193.

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