Rz. 19
Bei der Anwendung und Auslegung des "wichtigen Grundes" hat sich das LG Stuttgart offenkundig daran orientiert, was nach dem substantiierten und bewiesenen Vortrag des Klägers für diesen der "bessere Weg" sei und ihn in seiner persönlichen Situation und Entwicklung positiv beeinflusse.
Von diesem Begründungsmuster ist auch der lesenswerte Aufsatz von Schwintowski (VersR 2010, 149 ff.) geleitet, der hinsichtlich der Annahme eines "wichtigen Grundes" die zugegebenerweise dogmatisch recht weit gefasste Ansicht vertritt, dass es keiner Änderung des Gesetzeswortlautes des § 843 Abs. 3 BGB bedarf, damit die Kapitalisierung des Öfteren zur Anwendung gelangt, sondern dass die bestehende Vorschrift schlichtweg anders auszulegen und zu verstehen ist. Schwintowski zufolge ist es ausschließlich aus Sicht des Geschädigten zu beurteilen, ob ein "wichtiger Grund" i.S.d. § 843 Abs. 3 BGB vorliegt. Nach der sogenannten "Günstigerformel" habe der Geschädigte immer dann ein Recht auf Kapitalabfindung, wenn diese für ihn – allein aus seiner Sicht – günstig ist. Schwintowski führt in seinem Aufsatz mehrere Argumente und Beispiele an, nach denen eine Abfindung sich seelisch und psychisch auf den Geschädigten positiv und günstiger auswirkt.
Als Bespiele führt er an,
▪ | wenn der Geschädigte durch die Abfindung die Möglichkeit hat, ihm nahestehende Personen räumlich in einem Haus einzubinden, |
▪ | wenn er sich durch die Kapitalabfindung selbstständig machen kann und dadurch seinem Wunsch auf berufliche Umgestaltung gerecht werden kann. |
▪ | Wenn ein Umzug in ein Haus in einem naturbelassenen Stadtteil, welches barrierefrei ist, sich auf das seelische Gleichgewicht des Geschädigten günstig auswirkt. |
Schwintowski leitet die Argumente aus dem historischen Hintergrund von § 843 Abs. 3 BGB ab und kommt dogmatisch richtig zu dem Ergebnis, dass es keiner Gesetzesänderung bedarf, sondern bei sauberer Analyse und Berücksichtigung der Motive zum BGB der Geschädigte letztlich faktisch ein Wahlrecht hat zu entscheiden, ob ein wichtiger Grund vorliegt oder nicht.
Rz. 20
Zu dem gleichen Ergebnis gelangt letztlich auch Mittelstädt (Diss. 2013), demzufolge der Geschädigte immer dann einen Anspruch auf Kapitalisierung hat, wenn dieser unter Berücksichtigung der formell-prozessualen Vorgaben des § 286 ZPO schlüssig und substantiiert (unter Beweisantritt) vorträgt, dass die Gewährung einer Kapitalabfindung voraussichtlich einen günstigen Einfluss auf den Zustand und die Entwicklung des Geschädigten haben könnte und die Gewährung einer Rente für ihn ungünstiger wäre. Trägt der Geschädigte substantiiert zum wichtigen Grund vor und liegen keine evident dagegen sprechenden objektiven Gesichtspunkte in der Person des Geschädigten vor und wünscht der Geschädigte ausdrücklich eine Kapitalisierung seiner Ansprüche, so ist dieser Wille grundsätzlich zu respektieren. Das Gesetz weist dem Geschädigten – so Mittelstädt – zwei Formen der Gewährung eines Schadensersatzes zu (Rente in Abs. 1 und Kapital in Abs. 3). Entscheidet sich der Geschädigte für eine davon, übt er letztlich ein ihm nach dem Gesetz faktisch zugewiesenes Wahlrecht aus.
Praxistipp
Insofern können auch der Aufsatz von Schwintowski und die Dissertation von Mittelstädt als konkrete Denkanregung für die Anwälte verstanden werden, hinsichtlich des wichtigen Grundes mutiger und offensiver vorzugehen. Ob die Gerichte der Auffassung von Schwintowski und Mittelstädt folgen, dass es keiner Gesetzesänderung des § 843 Abs. 3 BGB bedarf, sondern dass der jetzige Wortlaut bereits dem Geschädigten ein solches faktisches Wahlrecht ermögliche, bleibt abzuwarten. Die Verfasser können sich vorstellen, dass der BGH, wenn er die Chance hätte, einmal eine Grundsatzentscheidung bezüglich des wichtigen Grundes zu treffen, durchaus die diesbezüglich ausgesprochen plausiblen und vor allem "sauber" rechtlich-dogmatisch hergeleiteten Argumente heranziehen würde. Allerdings wäre es auch möglich, dass der BGH sich, wie in anderen Rechtsgebieten, nicht generell positioniert, sondern nur über den wichtigen Grund im Einzelfall entscheidet, denn bekanntlich "springt der BGH nie höher als er muss".
Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?
Jetzt kostenlos 4 Wochen testen
Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen