Rz. 100

Grundlegend ist hier zunächst die Entscheidung des BVerfG v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05:[191]

Die bei der Auslegung des Gewaltbegriffs des Nötigungstatbestandes herangezogene sogenannte "Zweite-Reihe-Rechtsprechung" des BGH[192] begegnet keinen Bedenken in Bezug auf Art. 103 Abs. 2 GG.[193] Nach dieser Vorschrift darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Daraus folgt für die Rechtsprechung ein Verbot, den Inhalt der Strafvorschrift zu erweitern und damit Verhaltensweisen in die Strafbarkeit einzubeziehen, die nach dem Wortsinn der Vorschrift den Straftatbestand nicht mehr erfüllen. Die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens der Demonstranten gemäß § 240 Abs. 1 StGB ergibt sich hier nicht aus deren unmittelbarer Täterschaft durch eigenhändige Gewaltanwendung, sondern aus mittelbarer Täterschaft durch die ihnen zurechenbare Einwirkung des ersten Fahrzeugführers als Tatmittler auf die nachfolgenden Fahrzeugführer. Die vom BVerfG in früheren Entscheidungen für die Annahme von Gewalt i.S.v. § 240 Abs. 1 StGB geforderte körperliche Zwangswirkung liegt vor.[194] Zwar entspricht es der Rechtsprechung des BVerfG, dass dies nicht für das Verhältnis der Demonstranten zu dem ersten Fahrzeugführer gilt, der aus Rücksicht auf die Rechtsgüter der Demonstranten und damit allein aus psychischem Zwang anhält. Eine körperliche Zwangswirkung kann jedoch im Verhältnis des ersten Fahrzeugführers zu den nachfolgenden Fahrzeugführern angenommen werden. Die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens der Demonstranten folgt daraus, dass diese den anhaltenden ersten Fahrzeugführer und sein Fahrzeug bewusst als Werkzeug zur Errichtung eines körperlichen Hindernisses für die nachfolgenden Fahrzeugführer benutzen. Dass hierbei im Verhältnis von Demonstranten zu dem ersten Fahrzeugführer keine körperliche, sondern allein eine psychische Zwangswirkung vorliegt, ist für § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB ohne Belang, da die Einflussnahme eines mittelbaren Täters auf den Tatmittler durchaus allein psychischer Natur sein darf. Auch die Annahme, dass die Demonstranten über hinreichende Tatherrschaft beziehungsweise Willen zur Tatherrschaft verfügen, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Demonstranten versetzen den ersten Fahrzeugführer durch ihre Sitzblockade gezielt in ein Dilemma, das dieser rechtlich nicht anders als durch Stehenbleiben und damit durch Behinderung der nachfolgenden Fahrzeugführer auflösen kann. Auch einem Laien ist es hinreichend nachvollziehbar, dass ein Verhalten wie das der Demonstranten durch die Blockade für die im Stau eingeschlossenen Fahrer eine körperliche Zwangswirkung herbeiführt und damit als Nötigung tatbestandsmäßig sein kann.[195]

 

Rz. 101

Nach dem BVerfG hat das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene LG den Versammlungscharakter der Sitzblockade mit verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Gründen verneint; die Entscheidung des LG verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit:[196] Dass die Blockadeaktion die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für bestimmte politische Belange bezweckte, lässt den Schutz der Versammlungsfreiheit nicht entfallen, sondern macht die gemeinsame Sitzblockade, die somit der öffentlichen Meinungsbildung galt, erst zu einer Versammlung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG:[197] Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.[198] Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird.[199] Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden.[200] Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG zwar grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen.[201]

[191] BVerfG Beschl. v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05, NJW 2011, 3020 = DÖV 2011, 530.
[192] Vgl. BGHSt 41, 182, 185, 186, 187; BGHSt 41, 231, 241.
[193] BVerfG, Beschl. v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05, Rn 21 ff. 27 ff., NJW 2011, 3020 = DÖV 2011, 530.
[194] Vgl. BVerfG NJW 1995, 1141; BVerfG, Beschl. v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05, NJW 2011, 3020 = DÖV 2011, 530.
[195] BVerfG, Beschl. v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05, Rn 28 ff.,NJW 2011, 3020 = DÖV 2011, 530.
[196] BVerfG, Beschl. v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05 Rn 30 ff., NJW 2011, 3020 = DÖV 2011, 530
[197] BVerfG, Beschl. v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05, Rn 35, NJW 2011, 3020 = DÖV 2011, 530.
[198] BVerfGE 104, 92, 104.
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