Rz. 74

BGH, Urt. v. 21.9.2010 – VI ZR 263/09, VersR 2010, 1614

Zitat

StVG § 7 Abs. 1

Ein Unfall kann auch dann dem Betrieb eines anderen Kraftfahrzeugs zugerechnet werden, wenn er durch eine – objektiv nicht erforderliche – Ausweichreaktion im Zusammenhang mit einem Überholvorgang des anderen Fahrzeugs ausgelöst worden ist. Nicht erforderlich ist, dass die von dem Geschädigten vorgenommene Ausweichreaktion aus seiner Sicht, also subjektiv erforderlich war oder sich gar für ihn als die einzige Möglichkeit darstellte, um eine Kollision zu vermeiden (im Anschluss an Senatsurt. v. 26.4.2005 – VI ZR 168/04).

I. Der Fall

 

Rz. 75

Der Kläger, ein Polizeibeamter, begehrte Ersatz materiellen und immateriellen Schadens nach einem Verkehrsunfall, den er am 13.9.2004 auf dem Weg zu seiner Dienststelle erlitt und bei dem er schwer verletzt wurde. Er befuhr gegen 11:00 Uhr mit seinem Motorrad die Bundesstraße B 189 von K. in Richtung H. Hinter dem Ortsausgang von K. ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt. Nach dem Durchfahren einer Linkskurve, hinter der ein zuvor bestehendes Überholverbot endet, wollte der Kläger zwei vor ihm fahrende Pkw überholen, nämlich den von dem Beklagten zu 2 gesteuerten Pkw VW Passat, dessen Halterin seine Ehefrau ist und der bei der Beklagten zu 1 haftpflichtversichert ist, und den vor diesem fahrenden Pkw Skoda, der von dem Zeugen S. gesteuert wurde. Zu dem Unfall, dessen genauer Hergang streitig ist, kam es, weil auch der Beklagte zu 2 den Pkw Skoda überholen wollte und dazu ansetzte. Der Kläger nahm eine Notbremsung vor und leitete ein Ausweichmanöver ein. Dabei kam er nach links von der Fahrbahn ab und streifte einen Alleebaum. Danach schleuderten er und sein Motorrad zwischen dem VW Passat und dem Skoda nach rechts über die Straße und blieben dort neben der Fahrbahn liegen. Zu einer Berührung zwischen dem Motorrad des Klägers und einem der Pkw kam es nicht.

 

Rz. 76

Das Landgericht hat der Klage teilweise auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % stattgegeben. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht, dessen Urteil u.a. in NJW 2009, 2962 veröffentlicht ist, die Klage vollumfänglich abgewiesen. Dagegen wandte sich der Kläger mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision, mit der er hinsichtlich der Haftungsquote die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erstrebte und seinen Schmerzensgeldanspruch, soweit dieser den vom Landgericht zuerkannten Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens überstieg, in eingeschränktem Umfang weiterverfolgte.

II. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 77

Das Berufungsgericht führte aus, einer Haftung der Beklagten gemäß § 7 Abs. 1 i.V.m. § 18 StVG stehe zwar nicht schon entgegen, dass es zu keiner Berührung zwischen dem von dem Kläger geführten Motorrad und dem Pkw Passat des Beklagten zu 2 gekommen sei, denn für das Haftungsmerkmal "bei dem Betrieb" genüge es, dass sich eine von dem betreffenden Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr verwirklicht habe und diese den Schadensablauf mitgeprägt habe. Erforderlich sei aber, dass die Fahrweise oder der Betrieb des Kraftfahrzeugs zu dem Unfallgeschehen beigetragen habe. In den Fällen, in denen es nicht zu einer Berührung der betreffenden Kraftfahrzeuge gekommen sei, habe der Geschädigte den erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Betrieb des anderen Kraftfahrzeugs und dem Schadensereignis darzutun und zu beweisen; etwaige Zweifel an der Ursächlichkeit gingen zu seinen Lasten. Im Streitfall stehe nicht fest, dass der Kläger sich durch die Fahrweise des Beklagten zu 2 zu einem Ausweichmanöver habe veranlasst sehen müssen, um eine Kollision mit dem zum Überholen ansetzenden Pkw des Beklagten zu 2 zu vermeiden. Da nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich der Kläger zu dem Zeitpunkt, als der Beklagte zu 2 den Überholvorgang einleitete, noch in der rechten Fahrspur befand, sei nicht ersichtlich, aufgrund welcher Umstände er sich durch die Einleitung des Überholvorgangs des Beklagten zu 2 zu der von ihm vorgenommenen Reaktion habe herausgefordert sehen dürfen. Erforderlich sei, dass das Verhalten des Beklagten zu 2 für den Kläger zu der Befürchtung hätte Anlass geben müssen, dass es ohne eine Reaktion durch ihn zu einer Kollision kommen werde. Nach den getroffenen Feststellungen stehe aber nicht fest, dass die vom Kläger vorgenommene Ausweichreaktion subjektiv vertretbar gewesen sei und insbesondere für ihn die einzige Möglichkeit dargestellt habe, einen Zusammenstoß mit dem Kraftfahrzeug des Beklagten zu 2 zu vermeiden, etwa weil ein rechtzeitiges Abbremsen nicht mehr möglich gewesen sei.

 

Rz. 78

Diese Beurteilung hielt revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Zutreffend ging das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass die Halterhaftung gemäß § 7 Abs. 1 StVG und die Haftung des Fahrers aus vermutetem Verschulden gemäß § 7 Abs. 1 i.V.m. § 18 StVG auch dann eingreifen können, wenn es nicht zu einer Berührung zwischen den am Unfallgeschehen beteiligten Kraftfa...

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