Rz. 25

BGH, Urt. v. 17.9.2013 – VI ZR 95/13, VersR 2013, 1406

Zitat

BGB §§ 249 Abs. 2 S. 1, 823 Abs. 1; StVG §§ 7 Abs. 1; 11 S. 1

Ein Unfallgeschädigter kann die durch eine ärztliche Untersuchung oder Behandlung entstandenen Kosten vom Schädiger nur ersetzt verlangen, wenn der Unfall zu einer Körperverletzung geführt hat. Die bloße Möglichkeit oder der Verdacht einer Verletzung genügt dafür nicht.

I. Der Fall

 

Rz. 26

Die Klägerin begehrte als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung von dem beklagten Haftpflichtversicherer aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht die Erstattung von Aufwendungen, die sie für ihre Versicherten G. und F. nach einem Verkehrsunfall vom 9.1.2006 erbracht hatte. F. war Fahrerin ihres Pkws, in dem sich G. als Beifahrerin befand. Der Pkw kollidierte mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Die volle Haftung des beklagten Haftpflichtversicherers war dem Grunde nach unstreitig.

 

Rz. 27

Die Klägerin machte geltend, der Pkw der Versicherten F. habe eine Geschwindigkeit von etwa 15 km/h gehabt, das entgegenkommende Fahrzeug sei mit einer Geschwindigkeit von etwa 40 km/h gefahren. An dem Fahrzeug der Versicherten F. sei ein Sachschaden von etwa 4.500 EUR entstanden. G. habe einen Tag nach dem Unfallgeschehen starke Verspannungen im Hals-, Nacken- und Rückenbereich verspürt und am 11.1.2006 den Chirurgen Dr. Sch. aufgesucht, der einen erheblichen Druckschmerz im Bereich der oberen und mittleren Halswirbelsäule und die Vermeidung einer Drehung des Kopfes festgestellt habe. Dr. Sch. habe G. wegen des Verdachts einer Querfortsatzfraktur des dritten Halswirbelkörpers in ein Krankenhaus überwiesen. Eine dort durchgeführte MRT-Untersuchung habe keine Anhaltspunkte für eine Fraktur oder eine Verdrehung der Wirbelsäule ergeben. Nach Rückläufigkeit der Beschwerden sei G. am 13.1.2006 entlassen und anschließend physiotherapeutisch weiterbehandelt worden.F. habe sich am 10.1.2006 wegen Schmerzen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule in ärztliche Behandlung begeben. Sie habe Bewegungseinschränkungen und ein Ziehen wahrgenommen.

 

Rz. 28

Die Klägerin erstattete für G. die Behandlungskosten. Die Beklagte lehnte eine Zahlung ab.

 

Rz. 29

Das AG hat der Klage – nach Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung der Versicherten G. und F. und des Arztes Dr. Sch. und Einholung von Sachverständigengutachten zur Kollisionsgeschwindigkeit und zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung – stattgegeben. Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Das LG hat ein biomechanisches und medizinisches Gutachten eingeholt und die Klage unter Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

II. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 30

Die Revision hatte Erfolg.

 

Rz. 31

Rechtsfehlerfrei ging das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass ein Anspruch der Klägerin auf Ersatz der geltend gemachten Untersuchungs- und Behandlungskosten nur gegeben ist, wenn der Unfall zu einer Körperverletzung ihrer Versicherten geführt hat (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB). Ist eine Primärverletzung nicht bewiesen, fehlt es an einer Rechtsgutverletzung i.S.d. Haftungstatbestände der § 823 BGB, § 11 StVG. Der bloße Verletzungsverdacht steht einer Verletzung haftungsrechtlich nicht gleich (OLG Hamm r+s 2003, 434, 436; Jahnke, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 22. Aufl., Vor § 249 BGB Rn 87 m.w.N.).

Das Berufungsgericht hielt es für nicht bewiesen, dass die Versicherten G. und F. infolge des Unfalls eine HWS-Distorsion erlitten hatten. Diese – vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbare (vgl. Senatsurt. v. 8.7.2008 – VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126 Rn 7 m.w.N.) – tatrichterliche Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen und wurde von der Revision auch nicht in Frage gestellt.

 

Rz. 32

Die Revision wandte sich jedoch mit Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, es fehle im Streitfall an dem Nachweis jeglicher Verletzungen. Diese Beurteilung des Berufungsgerichts hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zwar ist die Würdigung der Beweise grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr. vgl. Senatsurt. v. 16.4.2013 – VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rn 13 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügte die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts nicht.

 

Rz. 33

Nach § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die rich...

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