Rz. 10

BGH, Urt. v. 26.2.2013 – VI ZR 116/12, VersR 2013, 599

Zitat

BGB § 823 Abs. 1 und 2; StVO §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 S. 1, 4 Abs. 1 S. 1

Verlässt ein Unfallbeteiligter wegen eines Auffahrunfalls bei eisglatter Fahrbahn sein Fahrzeug, um sich über die Unfallfolgen zu informieren, eröffnet er dadurch nicht selbst einen eigenständigen Gefahrenkreis. Stürzt er infolge der Eisglätte, verwirklicht sich nicht eine aufgrund der Straßenverhältnisse gegebene allgemeine Unfallgefahr, sondern die besondere durch den Unfall entstandene Gefahrenlage.

I. Der Fall

 

Rz. 11

Der Kläger verlangte Schmerzensgeld und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden aufgrund einer Schulterverletzung, die er sich durch den Sturz auf eisglatter Fahrbahn nach einem Verkehrsunfall zugezogen hatte.

 

Rz. 12

Am 15.12.2010 rutschte der Pkw der Beklagten gegen den, vor einer vorfahrtsberechtigten Straße anhaltenden, Pkw des Klägers. Dabei verhakte sich die vordere Stoßstange des Pkw der Beklagten mit der Anhängerkupplung am Fahrzeug des Klägers, ohne dass die Fahrzeuge selbst beschädigt wurden. Der Kläger stieg nach dem Unfall aus und ging um die Fahrzeuge herum. Noch vor Erreichen des Gehwegs stürzte er auf der eisglatten Fahrbahn und zog sich einen Bruch des rechten Schultergelenks zu.

 

Rz. 13

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit seinem Rechtsmittel verfolgte der Kläger sein Klagebegehren weiter.

II. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 14

Die Revision des Klägers hatte Erfolg.

 

Rz. 15

Das Berufungsgericht hatte der Beklagten allerdings mit Recht ein fahrlässiges Verhalten im Straßenverkehr angelastet, weil sie entweder infolge einer den örtlichen Gegebenheiten nicht angepassten Fahrgeschwindigkeit oder zu geringen Abstands oder Unaufmerksamkeit auf das Fahrzeug des Klägers aufgefahren war. Gegen diese ihr gegenüber günstige Beurteilung wandte sich die Revision nicht.

 

Rz. 16

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts haftete die Beklagte dem Kläger auch für die Folgen der Verletzung, die dieser durch den Sturz auf der eisglatten Fahrbahn erlitten hatte. Für die Frage der Verschuldenshaftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 Abs. 1 S. 1, § 4 Abs. 1 S. 1 und § 1 Abs. 2 StVO ist der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang zwischen den beiden Unfällen zu bejahen. Auch umfasst der Schutzbereich der Straßenverkehrsvorschriften, deren Verletzung durch die Beklagte zum Zusammenstoß mit dem Fahrzeug des Klägers geführt hatte, den durch den Sturz entstandenen Schaden. Dazu haftete die Beklagte gemäß § 7 Abs. 1 StVG wegen der Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs.

 

Rz. 17

Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der für die Verschuldenshaftung erforderliche haftungsbegründende Zurechnungszusammenhang zwischen dem durch die Beklagte verschuldeten Unfall und den Verletzungen des Klägers nicht gegeben sei, begegnete durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

 

Rz. 18

Allgemein verbindliche Grundsätze, in welchen Fällen ein haftungsrechtlicher Zurechnungszusammenhang bejaht oder verneint werden muss, lassen sich nicht aufstellen. Letztlich kommt es auf eine wertende Betrachtung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls an (vgl. Senatsurt. v. 10.2.2004 – VI ZR 218/03, VersR 2004, 529, 530 und vom 5.10.2010 – VI ZR 286/09, VersR 2010, 1662 Rn 20). Auch kann der Verursachungsbeitrag eines Zweitschädigers einem Geschehen eine Wendung geben, die die Wertung erlaubt, dass die durch den Erstunfall geschaffene Gefahrenlage für den Zweitunfall von völlig untergeordneter Bedeutung ist und eine Haftung des Erstschädigers nicht mehr rechtfertigt (vgl. Senatsurt. v. 10.2.2004 – VI ZR 218/03 und vom 5.10.2010 – VI ZR 286/09, jeweils a.a.O.). So lag der Streitfall aber gerade nicht. Wirken in einem weiteren Unfall die besonderen Gefahren fort, die sich bereits im ersten Unfallgeschehen ausgewirkt hatten, kann der Zurechnungszusammenhang mit dem Erstunfall jedenfalls nicht verneint werden.

 

Rz. 19

Der erkennende Senat teilte nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, dass sich in dem Sturz des Klägers ausschließlich die durch die Straßenverhältnisse begründete allgemeine Unfallgefahr verwirklicht habe. Auch wenn zum Unfallzeitpunkt aufgrund der winterlichen Straßenverhältnisse die Gefahr allgemein gegeben war, dass Fußgänger ins Rutschen geraten und stürzen, war für die Verletzung des Klägers entscheidend, dass er nur wegen des Auffahrunfalls aus seinem Fahrzeug ausstieg und über die eisglatte Fahrbahn ging, um die Unfallstelle zu besichtigen und zum Gehsteig zu gelangen. Der vom Berufungsgericht gezogene Vergleich mit einem beliebigen anderen Fußgänger, der zu dieser Zeit auf den Straßen des Unfallorts unterwegs war, ließ dies unberücksichtigt. Ohne den Unfall hätte der Kläger sein Fahrzeug an der Unfallstelle nicht verlassen und wäre auch nicht infolge der dort bestehenden Eisglätte gestürzt. In dem Sturz des Klägers realisierte sich mithin die besondere Gefahrenlage für die an...

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