Rz. 471

Nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB sind Vertragsbedingungen unwirksam, die den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Damit beinhaltet die Vorschrift den Grundtatbestand der inhaltlichen Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, der auch solche Vertragsbedingungen erfasst, die von den §§ 307 Abs. 2 (siehe Rdn 441 ff.), 308 (siehe Rdn 256 ff.), 309 BGB (siehe Rdn 14 ff.) keiner inhaltlichen Kontrolle unterzogen werden.[1051] Für Verbraucherverträge ist § 307 Abs. 1 S. 1 BGB im Zusammenhang mit der europarechtlichen Grundlage des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG zu sehen, wonach eine Vertragsklausel missbräuchlich ist, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursacht. Beide Regelungen zielen damit auf einen Schutz des Verbrauchers vor unangemessenen Benachteiligungen ab, so dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG bei der Anwendung des § 307 Abs. 1 S. 1 BGB zu berücksichtigen ist.[1052]

 

Rz. 472

Zweck der Regelung ist es, eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners oder von dessen Rechtsnachfolger zu verhindern und damit für eine gerechte Ausgestaltung des Vertrags Sorge zu tragen.[1053] Um dieses Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen und die wechselseitigen Interessen von Verwender und Vertragspartner zu einem gerechten Ausgleich zu bringen.[1054]

 

Rz. 473

Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung, ob eine unangemessene Benachteiligung vorliegt, ist der Zeitpunkt des Vertragschlusses.[1055] Dies ergibt sich für Verbraucherverträge aus Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG, gilt aber auch im Übrigen, da ab diesem Zeitpunkt die Allgemeinen Geschäftsbedingungen ihre Wirksamkeit entfalten. Ändern sich die tatsächlichen Umstände während der Laufzeit des Vertrags und tritt hierdurch eine unangemessene Benachteiligung ein, so kann dies einen Verstoß gegen § 242 BGB, nicht aber gegen § 307 Abs. 1 S. 1 BGB rechtfertigen.[1056] Auch ein Wandel in der tatsächlichen Bewertung ist grundsätzlich nicht geeignet, eine Unwirksamkeit der Vertragsbedingung nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB zu begründen, da dies mit einem erheblichen Maß an Rechtsunsicherheit verknüpft wäre und der Verwender seine Vertragsbedingungen nur nach den rechtlichen Bewertungsmaßstäben zum Zeitpunkt des Vertragschlusses erstellen kann.[1057] Besteht die Veränderung dagegen in einer Ver­besserung der Inhaltskontrolle und nicht auf einer wesentlichen Änderung des Bewertungsmaßstabs, so sind die neuen Grundsätze auch auf vorhergehende Vertragsbedingungen anwendbar.[1058] Dies beruht darauf, dass der späteren Kontrolle keine andere Bewertung zugrunde gelegt wird, vielmehr die Vertragsbedingung nachträglich genauer auf ihre Vereinbarkeit mit den im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Bewertungsmaßstäben überprüft werden kann.

 

Rz. 474

Um die umfassende Abwägung der Interessen des Verwenders und der Interessen der Vertragspartner sicherzustellen, ist eine generalisierende, überindividuelle Betrachtungsweise anzustellen.[1059] Da nämlich schon die Inhaltskontrolle einen abstrakt-generellen Charakter aufweist, muss sich dies auch auf ihren Bewertungsmaßstab auswirken.[1060] In die Abwägung sind allerdings nicht die Interessen jedes einzelnen potentiellen Vertragspartners einzubeziehen. Stattdessen ist auf die Interessen der von dem Vertrag und damit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen typischerweise betroffenen Vertragspartner abzustellen.[1061]

[1051] NK-BGB/Kollmann, § 307 Rn 1; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 307 Rn 157; Palandt/Grüneberg, § 307 Rn 1.
[1052] NK-BGB/Kollmann, § 307 Rn 5; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 307 Rn 157; Palandt/Grüneberg, § 307 Rn 10; MüKo/Wurmnest, § 307 Rn 25 ff.; AnwK-Schuldrecht/Hennrichs, § 307 Rn 4.
[1053] AnwK-Schuldrecht/Hennrichs, § 307 Rn 4; vgl. auch Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 307 Rn 158.
[1054] BGH NJW 2003, 886, 887; Wolf/Lindacher/Pfeiffer/Dammann, § 307 Rn 174 ff.; NK-BGB/Kollmann, § 307 Rn 8 ff.; AnwK-Schuldrecht/Hennrichs, § 307 Rn 4.
[1055] NK-BGB/Kollmann, § 307 Rn 4; Palandt/Grüneberg, § 307 Rn 7; Medicus, NJW 1995, 2577, 2580.
[1056] NK-BGB/Kollmann, § 307 Rn 4; Palandt/Grüneberg, § 307 Rn 7; Medicus, NJW 1995, 2577, 2580.
[1057] Palandt/Grüneberg, § 307 Rn 7; Medicus, NJW 1995, 2577, 2580.
[1058] Palandt/Grüneberg, § 307 Rn 7.
[1059] BGHZ 105, 24, 31; BGHZ 110, 241, 244; Palandt/Grüneberg, § 307 Rn 8; NK-BGB/Kollmann, § 307 Rn 8; AnwK-Schuldrecht/Hennrichs, § 307 Rn 4.
[1060] Palandt/Grüneberg, § 307 Rn 8.
[1061] NK-BGB/Kollmann, § 307 Rn 8.

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