A. Schmerzensgeld

I. Bisherige Praxis der Schmerzensgeldbemessung

 

Rz. 1

In der Vorauflage zu diesem Buch befinden sich Ausführungen zur Schmerzensgeldbemessung, die sich im Wesentlichen in der Rechtspraxis nicht verändert haben. Stichwortartig mögen die dortigen Ausführungen zusammengefasst werden unter dem Begriff "herkömmliches Schmerzensgeldbemessungsmodell".

 

Rz. 2

Ausgangspunkt für die Bemessung des Schmerzensgeldes sind verschiedene Kriterien, die in der Rechtsprechung in § 252 Abs. 2 BGB bzw. § 253 Abs. 2 BGB n.F. herausgearbeitet worden sind. Am Anfang steht in der historischen Rückschau die Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen vom 6.7.1955 (BGHZ 18, 149; NJW 1955, 1675). Neben dem dort konstituierten Grundsatz der Doppelfunktion des Schmerzensgeldes, nämlich der Genugtuungsfunktion und dem Ausgleichsgedanken wurden dort die Kriterien Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychische Beeinträchtigungen als maßgebliche Kriterien für die Bemessung von Schmerzensgeld bestimmt.

 

Rz. 3

Seitdem orientiert sich die Rechtsprechung bei der Bemessung von Schmerzensgeld mehr oder weniger an diesen Parametern, wobei aber eine Subsumtion anhand von nachvollziehbaren Parametern, die diese Begriffe ausfüllen sollen, nicht stattfindet.

 

Rz. 4

Es hat sich deshalb in der Folge eine Schmerzensgeldbemessungspraxis entwickelt, die immer wieder auf bereits entschiedene Sachverhalte zurückgreift – auf Vergleichsentscheidungen, von denen man annimmt, dass sie den aktuell zu entscheidenden Fall mehr oder weniger gut abbilden.

 

Rz. 5

Um dieser Schmerzensgeldbemessungspraxis gerecht zu werden, wurden in der Praxis unendlich viele verschiedene Schmerzensgeldurteile in Sammlungen zusammengetragen. Die umfangreichste Schmerzensgeldsammlung stellt hier die Tabelle von Hacks/Wellner/Häcker in der derzeit 35. Auflage 2017 (vormals: Hacks/Ring), auch als ADAC-Schmerzensgeldtabelle bekannt, dar.

 

Rz. 6

Generationen von Juristen suchen also bei der Bemessung von Schmerzensgeld nach Vergleichsentscheidungen, die möglichst dicht am zu entscheidenden Sachverhalt angelehnt sind. Damit ist ein doppeltes Dilemma verbunden: Zunächst sind die meisten Vergleichsentscheidungen eben doch nicht vergleichbar, weil die zugrunde liegenden Lebenssachverhalte nur geringe Überschneidungen und erhebliche Differenzen aufweisen. Zum anderen führt diese Arbeitsweise dazu, dass Schmerzensgeldbeträge quasi eingefroren werden, weil bereits ausgeurteilte Beträge zum Maßstab für eine sich später ereignete Verletzung gemacht werden. Diese Herangehensweise trägt maßgeblich dazu bei, dass Schmerzensgeldbeträge recht statisch sind und nicht der gleichen Dynamik unterliegen, wie beispielsweise die Regulierung eines Erwerbsschadens, bei dem im Hätte-Verlauf die individuelle Karriere des Geschädigten zugrunde zu legen ist und in der z.B. eine regelmäßige Angleichung der Entschädigungsbeträge an aktuelle Tarifverträge vereinbart wird.

 

Rz. 7

So hat es in der Rechtsprechung durchaus namhafte Versuche gegeben, Schmerzensgeldbeträge anzuheben, um das Dilemma der bisherigen Regulierungspraxis abzufedern. Das LG München I hat am 29.3.2001 (Az. 19 O 8647/00) das seinerzeit höchste Schmerzensgeld in Höhe von 750.000 DM zzgl. einer monatlichen Rente von 1.500 DM ausgeurteilt, wobei in vergleichbaren Fällen bis dato Maximalbeträge von 450.000 DM bis 700.000 DM zzgl. monatlicher Renten zwischen 500 DM und 750 DM ausgeurteilt worden waren. Das Gericht hat damals ausgeführt, dass Schmerzensgelder in gewisser Weise mit der inflationierenden Entwicklung der allgemeinen Lebenshaltungskosten Schritt halten müssen, um ihrer Ausgleichsfunktion gerecht zu werden. Diese Entscheidung hat mit dazu beigetragen, dass in den Fällen schwerster Personenschäden, die oftmals mit einer völligen Persönlichkeitszerstörung einhergehen, nun höhere Schmerzensgelder ausgeurteilt werden, als vor der Jahrtausendwende. Dies alles geschieht jedoch wiederum, ohne dass Parameter entwickelt worden wären, die eine Vergleichbarkeit der Schmerzensgelder ermöglichen. Regelrecht phrasenhaft fallen die Begriffe "Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychische Beeinträchtigungen", die bereits der Große Senat im Jahr 1955 entwickelt hat und die als Bemessungsgrundlage Anwendung finden sollten. Keinem Gericht ist es bis dato gelungen, nachvollziehbare Kriterien zu entwickeln, die insbesondere eine Vergleichbarkeit der einzelnen Schmerzensgeldentscheidungen untereinander herstellen und die eben jene Parameter des Großen Senates mit konkret fassbaren Inhalten füllen und die konkrete Beträge diesen einzelnen Parametern zuweisen.

 

Rz. 8

So ist an sich die bisherige Bemessungspraxis von Schmerzensgeld unbefriedigend und führt zu erheblichen Ungerechtigkeiten.

 

Rz. 9

Um das Dilemma aufzuzeigen, in dem die Praxis bisher steckt, bedarf es nur weniger Entscheidungen, die hier in einen Vergleichskontext gestellt werden. Im Folgenden werden vier verschiedene – willkürlich gewählte – Entscheidungen dargestellt und miteinander verglichen, wob...

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