Rz. 138

Bei Kindern, Schülern, Auszubildenden und Studenten muss der Schädiger alle Nachteile ausgleichen, die aus dem verzögerten oder verhinderten Berufseinstieg entstehen (BGH VersR 1985, 62). Die Prognose, welchen Beruf der verletzte junge Mensch ohne den Unfall ergriffen hätte, ist umso schwieriger, je jünger der Verletzte ist und je weniger weit er in seiner bisherigen Berufsausbildung fortgeschritten ist. Am schwierigsten ist es, eine Prognose für die berufliche Entwicklung eines Kindes zu treffen. Hierbei gilt der Grundsatz, dass die Schwierigkeiten einer Prognose für die Entwicklung des Erwerbslebens nicht zulasten des in jungen Jahren Geschädigten gehen dürfen, da gerade das Schadensereignis die Aufklärungsprobleme zum Schadensumfang bedingt (BGH NJW 1995, 1023; BGH DAR 1995, 202; BGH NJW 1997, 931). Aus diesem Grunde dürfen an die Darlegung konkreter Anhaltspunkte für die Schadensermittlung im Rahmen der §§ 252 Satz 2 BGB, 287 Abs. 1 ZPO keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Dies gilt umso mehr, je jünger die geschädigte Person ist.

 

Rz. 139

Für die Regulierungspraxis bedeutet das, dass umso mehr "spekuliert" werden darf, je weniger weit die Berufsausbildung gediehen ist (BGH NJW 1998, 1633; OLG Hamm VersR 2000, 234; OLG Stuttgart VersR 1999, 630). Scheffen/Pardey, Rn 906, schlagen vor, bei schweren Schädigungen von Kindern in jungen Jahren für den Zeitpunkt des hypothetischen Schul- und Ausbildungsabschlusses an einen Mindestersatz zu denken, der an die konkreten Verhältnisse anknüpft und so gewährleistet, dass betroffene Kinder einen angemessenen Ausgleich erhalten. Hierbei ist an die eigenen beruflichen Pläne des Kindes aus der Zeit vor dem Unfall ebenso wie an die konkreten Anstrengungen nach dem Unfall anzuknüpfen. Dabei fließen auch die Begabungen und Fähigkeiten des Kindes und auch seine Strebsamkeit in die Beurteilung mit ein. Statistische Daten sind bei einer solchen Beurteilung nicht aussagekräftig. Es kommt immer auf den individuellen Lebensweg auch des sehr jungen Geschädigten an. Dieser ist mehrheitlich geprägt von der Erziehung durch die Eltern und wird beeinflusst durch die Ausbildung und die berufliche Qualifikation von Eltern und Geschwistern, gegebenenfalls unter Berücksichtigung einer Familientradition ("Arztfamilie") (OLG Frankfurt VersR 1985, 48; OLG Karlsruhe zfs 1990, 151).

 

Rz. 140

Üblicherweise kann man von einem durchschnittlichen Erfolg in der hypothetisch anzunehmenden Erwerbstätigkeit des Kindes ausgehen. Wenn jedoch Anhaltspunkte für eine außergewöhnliche berufliche Laufbahn angelegt sind, wie zum Beispiel eine besondere musische Veranlagung ("Wunderkind" am Klavier), so ist auf dieser Basis die Prognose hinsichtlich des Erwerbsschadens anzustellen.

 

Rz. 141

Der 51. Deutsche Verkehrsgerichtstag 2013 hat sich im Arbeitskreis I mit der Erwerbsschadensermittlung vor oder kurz nach dem Berufseinstieg befasst. In den Abschlussempfehlungen heißt es, dass regelmäßig zumindest ein Mindesteinkommen festgestellt werden kann, auch wenn es sich nicht beweisen lässt, dass sich der behauptete Berufswunsch realisiert hätte. Das bedeutet nichts weniger und nichts mehr, dass es eine "Hartz IV-Karriere" per Definition nicht geben kann. Mit dem Mindestlohn sollten hier kreative Anknüpfungspunkte gerade bei verletzten jungen Menschen bildungsferner Herkunft für die Erwerbsschadensregulierung möglich sein.

 

Rz. 142

Maßgebliche Bedeutung kommt auch der Abschlussempfehlung Nr. 2 des 51. Deutschen Verkehrsgerichtstages 2013 im Arbeitskreis I zu: Soweit bei jungen Verletzten ein Erwerbsschaden feststeht oder jedenfalls deutlich absehbar ist, sollte der Versicherer zur Verhinderung einer wirtschaftlichen Notlage des Geschädigten angemessene Vorschusszahlungen leisten. Dieser Aspekt tritt in der Regulierung immer wieder nach hinten. Junge Menschen haben keinen Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens gegen Sozialversicherungsträger, sofern sie nicht bereits in dieses System finanziell geleistet haben. Das bedeutet, dass junge Verletzte sehr schnell der Sozialhilfe anheimfallen können, wenn eine Erwerbsschadensregulierung nicht forciert wird. Jeder Anwalt sollte deshalb mit dem Versicherer kurzfristig in Kontakt treten, wenn nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge – d.h. ohne das stattgefundene Schadensereignis – der Mandant nun in das Berufsleben eingestiegen wäre. Hier besteht eine besondere Verpflichtung des Versicherers für angemessene Vorschüsse.

 

Rz. 143

Ein häufig anzutreffender Fall ist die unfallbedingte Verzögerung in der Schul- oder Berufsausbildung, verbunden mit einem verspäteten Eintritt in das Erwerbsleben. Zur Schadensermittlung ist auch hier wieder der Ist-Verlauf mit dem Soll-Verlauf zu vergleichen (OLG Hamm VersR 2000, 234). Es ist zunächst die Differenz zwischen den Einkünften beim hypothetischen Beginn der Ausbildung und den fiktiven Einkünften bei verschobenem Ausbildungsende für den dazwischen liegenden Zeitraum zu bilden. Dabei kommt es nicht nur auf die entgangene Ausbildu...

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