Rz. 65

Ein "100 zu 0"-Fall liegt erst einmal auch dann vor, wenn der Unfall durch einen Fahrzeugführer verursacht wird, der im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang aus dem ruhenden in den fließenden Verkehr einfährt. Er hat in diesem Fall die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen und im Wege des Anscheinsbeweises wird ein schuldhafter Verstoß gegen § 10 StVO vermutet. Ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit der Einfahrt in den fließenden Verkehr ist auch dann noch zu bejahen, wenn das Fahrzeug mehrere Fahrzeuglängen zurückgelegt hat.[49] Das Einfahren endet räumlich erst dann, wenn sich das Fahrzeug endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat und jede Einflussnahme des Anfahrvorgangs auf den fließenden Verkehr ausgeschlossen ist.[50]

 

Rz. 66

Muster 4.24: Anscheinsbeweis bei Einfahrt in den fließenden Verkehr

 

Muster 4.24: Anscheinsbeweis bei Einfahrt in den fließenden Verkehr

§ 10 S. 1 StVO legt dem vom Fahrbahnrand anfahrenden bzw. dem von bestimmten Örtlichkeiten auf die Fahrbahn einfahrenden Fahrzeugführer die Verantwortung für die Gefahrlosigkeit seines Fahrmanövers grundsätzlich allein auf. Von ihm wird äußerste Sorgfalt gefordert (BGH, Urt. v. 25.4.1985 – III ZR 53/84 = VersR 1985, 835). Kommt es bei diesem Fahrmanöver zu einem Unfall mit dem fließenden Verkehr, spricht der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verstoß gegen § 10 StVO und die einfache Betriebsgefahr des Pkw im fließenden Verkehr tritt hinter diesem überragenden Fehlverhalten zurück (BGH, Urt. v. 20.9.2011 = VI ZR 282/10 = VersR 2011, 1540; OLG Saarbrücken, Urt. v. 3.8.2017 – 4 U 156 & 16 = zfs 2018, 137; OLG Hamm, Urt. v. 27.3.2015 – I-11 U 44/14 – juris; OLG München, Urt. v. 9.11.2012 – 10 U 834/12 – juris; OLG Köln, Urt. v. 13.7.2011 – 5 U 26/11 = DAR 2011, 640).

 

Rz. 67

Auch in diesen Fällen verteidigt sich der Einfahrende häufig mit dem Argument, er habe zum Unfallzeitpunkt bereits gestanden. Genau wie bei derselben Situation im Zusammenhang mit einer Rückwärtsfahrt gilt aber, dass der Anscheinsbeweis zu seinen Lasten fortbestehen bleibt. Er hat im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der Einfahrt jegliche Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Die von ihm geschaffene Gefahrenlage besteht auch fort, wenn es ihm (zufällig) gelingt, kurz vor der Kollision sein Fahrzeug zum Stillstand zu bringen.

 

Rz. 68

Muster 4.25: Anscheinsbeweis bei Einfahrt in den fließenden Verkehr

 

Muster 4.25: Anscheinsbeweis bei Einfahrt in den fließenden Verkehr

Kommt es bei dem Einfahren vom ruhenden in den fließenden Verkehr zu einem Unfall mit dem fließenden Verkehr, spricht der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verstoß gegen § 10 StVO und die einfache Betriebsgefahr des Pkw im fließenden Verkehr tritt hinter diesem überragenden Fehlverhalten zurück (BGH, Urt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10 = VersR 2011, 1540; OLG Saarbrücken, Urt. v. 3.8.2017 – 4 U 156 & 16 = zfs 2018, 137; OLG Hamm, Urt. v. 27.3.2015 – I-11 U 44/14 – juris). Dabei kann es dahinstehen, ob das Fahrzeug bereits gestanden hat. Denn der Anscheinsbeweis greift zu Lasten des vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr einfahrenden Fahrzeugführers auch dann ein, wenn dieser zum Kollisionszeitpunkt bereits zum Stehen gekommen, gleichwohl aber ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit seiner Fahrbewegung gegeben ist oder er aber gerade erst angefahren ist (OLG Hamm, Beschl. v. 8.1.2016 – 9 U 125/15 – juris; OLG Hamm, Urt. v. 7.3.2014 – 9 U 210/13 = VRR 2014, 162). Dies gilt selbst dann, wenn das Fahrzeug als Hindernis für 2–3 Minuten im fließenden Verkehr gestanden hat, da der Einfahrende jede Gefährdung des fließenden Verkehrs bis zu dem Zeitpunkt auszuschließen hat, zu dem er sich vollständig in den fließenden Verkehr mit der dort herrschenden Geschwindigkeit eingegliedert hat (OLG Köln, Urt. v. 19.7.2005 – 4 U 35/04 = DAR 2006, 27; vgl. auch KG Berlin, Beschl. v. 29.10.2007 – 12 U 5/07 = KGR Berlin 2008, 855 sowie KG Berlin, Beschl. v. 27.11.2006 – 12 U 181/06 = NZV 2007, 359).

 

Rz. 69

Eine weitere Situation, die zur Anwendung des Anscheinsbeweises führt, liegt in dem Fall vor, wenn durch ein Türöffnen eine Unfallursache geschaffen wird. Kommt es in einem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Öffnen der Fahrertür eines Pkw, zu einer Kollision mit einem anderen Fahrzeug, so spricht der Anscheinsbeweis für eine Verletzung der Sorgfaltspflichten aus § 14 StVO.[51]

 

Rz. 70

Muster 4.26: Anscheinsbeweis beim Türöffnen

 

Muster 4.26: Anscheinsbeweis beim Türöffnen

Wer aus einem Fahrzeug aussteigt, hat gem. § 14 StVO die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Ereignet sich ein Unfall in Verbindung mit dem Türöffnen beim Ein- bzw. Aussteigen, spricht gegen den Ein- bzw. Aussteigenden der Anscheinsbeweis bzgl. eines schuldhaften Verstoßes gegen § 14 StVO (BGH, Urt. v. 6.10.2009 – VI ZR 316/08 = VersR 2009, 1641; OLG Düsseldorf, Urt. v. 4.3.2014 – I-1 U 101/13 – juris; KG Berlin, Urt. v. 22.4.2004 – 12 U ...

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