Rz. 23

Die Pflegefamilie (zu Begriff und Abgrenzung siehe Rdn 29) unterfällt – bei Vorliegen eines länger andauernden Pflegeverhältnisses – dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG[63] und dem des Art. 8 EMRK.[64] Steht daher die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie in Rede, so muss bereits im Vorfeld sorgfältig geprüft werden, welche Auswirkungen diese Maßnahme auf das Kind haben wird, da in der Regel davon auszugehen ist, dass bei einem länger dauernden Pflegeverhältnis zwischen dem Kind und seinen Pflegeeltern eine gewachsene Bindung im Sinne einer sozialen Familie entstanden ist.[65] Schutzzweck des § 1632 Abs. 4 BGB ist die Vermeidung der Herausnahme eines Kindes aus einer Pflegefamilie zur Unzeit.[66] Die Herausnahme des Kindes aus diesem gewachsenen Umfeld kann eine Gefahr für das seelische Wohl des Kindes darstellen,[67] so dass gegebenenfalls aus diesem Grund das Elternrecht – zumindest vorübergehend – zurücktreten muss[68] und eine Verbleibensanordnung[69] des Familiengerichts als milderes Mittel eine ansonsten gegebenenfalls nach § 1666 BGB notwendige Maßnahme ersetzt,[70] da der Gefahrenbegriff des § 1632 Abs. 4 BGB mit dem des § 1666 BGB identisch ist.[71] Für ein Kind ist mit seiner Herausnahme aus der gewohnten Umwelt ein schwer bestimmbares Zukunftsrisiko verbunden. Die Unsicherheiten bei der Prognose sowie der Umstand, dass die Trennung von seinen unmittelbaren Bezugspersonen für das Kind regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung bedeutet, dürfen allerdings nicht dazu führen, dass bei Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie die Wiederzusammenführung von Kind und Eltern schon immer dann ausgeschlossen ist, wenn das Kind seine "sozialen" Eltern gefunden hat.[72] Das verstieße gegen das verfassungsrechtliche Gebot, die Rückführungsperspektive[73] – und zwar auch im Falle eingeleiteter Dauerpflege – grundsätzlich offenzuhalten.[74] Bei der Abwägung zwischen Elternrecht und Kindeswohl im Rahmen von Rückführungsentscheidungen nach § 1632 Abs. 4 BGB ist deshalb ein größeres Maß an Unsicherheit über mögliche Beeinträchtigungen des Kindes hinnehmbar als bei einem lediglich beabsichtig­ten Wechsel von einer Pflegefamilie in eine andere. In letzterem Fall ist die Risikogrenze enger zu ziehen. Ein solcher Wechsel ist nur statthaft, wenn mit hinreichender Sicherheit eine Ge­fährdung des Kindeswohls ausgeschlossen ist.[75] Die Aufrechterhaltung der Trennung des Kindes von seiner Herkunftsfamilie ist dagegen mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG nur vereinbar, wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen oder physischen Schädigungen verbunden sein kann. Die Risikogrenze hinsichtlich der Prognose möglicher Beeinträchtigungen des Kindes ist allerdings auch bei der Entscheidung über eine Rückführung des Kindes zu seinen Eltern dann überschritten, wenn unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern psychische oder physische Schädigungen nach sich ziehen kann. Ein solches Risiko ist für das Kind nicht hinnehmbar.[76]

Allerdings macht es einen Unterschied, ob das Kind bei Pflegeeltern oder aber in einem Waisenhaus untergebracht ist. Lebt ein Kind in einem Waisenhaus, entstehen zum einen an die dortigen Bezugspersonen regelmäßig geringere Bindungen als an Pflegeeltern. Zum anderen wird das Kind nicht langfristig in dem Waisenhaus leben, so dass ein Wechsel der Betreuungspersonen und des Betreuungsumfelds ohnehin bevorsteht. Bei dieser Sachlage kommt dem Bindungsabbruch grundsätzlich geringere Bedeutung zu als bei der Rückführung aus einer Pflegefamilie.[77] Nichts anderes gilt, wenn ein Kind in einer Bereitschaftspflegefamilie lebt, aber in nächster Zeit in Dauerpflege überführt werden soll.[78] In beiden Fällen liegt es daher besonders nahe, zur Vorbereitung der Rückführung eine die Bindung des Kindes zu den Eltern intensivierende Umgangsregelung zu treffen.[79]

Aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG folgt zugleich, dass Pflegeverhältnisse nicht in der Weise verfestigt werden dürfen, dass die leiblichen Eltern mit der Weggabe in nahezu jedem Fall den dauernden Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie befürchten müssen. Weil eine Rückkehr zu den Eltern auch nach längerer Fremdunterbringung vorbehaltlich entgegenstehender Kindesbelange grundsätzlich möglich bleiben muss, dürfen die Belastungen des Kindes, die mit einem Wechsel der Hauptbezugspersonen immer verbunden sind, eine Rückführung nicht automatisch dauerhaft ausschließen.[80] An die Verhältnismäßigkeit der Aufrechterhaltung der Trennung sind besonders strenge Anforderungen zu stellen, wenn die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 S. 1 BGB bei der Wegnahme des Kindes nicht vorlagen. Strengere Anforderungen gelten auch dann, wenn die ursprünglich durch § 1666 BGB begründete Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht auf einer missbräuchlichen Ausübung der elterli...

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