Rz. 851

Die gesetzliche Unfallversicherung wurde mit dem Unfallversicherungsgesetz v. 6.7.1884 eingerichtet und bildete mit dem Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (1883) und dem Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz (1889) einen der drei klassischen Zweige der Sozialversicherung, die 1911 in der RVO[479] zusammengefasst wurden. Die RVO wurde weitgehend abgelöst durch das SGB, innerhalb dessen das SGB VII[480] zum 1.1.1997 für die gesetzliche Unfallversicherung die vorausgegangenen Vorschriften der RVO, teilweise fortgebildet durch Richterrecht, z.T. auch erweiternd[481] übernommen hat.

 

Rz. 852

Die gesetzliche Unfallversicherung verbindet soziale Sicherung mit Haftpflichtschutz.[482] Sie war bei ihrer Entstehung allein auf Arbeitsunfälle ausgerichtet. Sie wurde geschaffen als Ablösung der Haftpflicht des Arbeitgebers gegenüber seinen Arbeitnehmern, wenn diese im Betrieb verunfallten. Um innerbetrieblichen Streitigkeiten wegen einer etwaigen zivilrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmer und/oder Kollegen zu beenden, schlossen sich Arbeitgeber zu Genossenschaften zusammen, um einerseits den verletzten Arbeitnehmer (bei Tod dessen Hinterbliebene) bei einem Unfall – unabhängig auch von der Solvenz des Schädigers – besonders abzusichern, andererseits Unternehmer und Kollegen von einer privatrechtlichen Haftpflicht (und damit verbunden auch einer etwaigen Freistellungsverpflichtung des Unternehmers) zu befreien:

Bei jedem Arbeitsunfall sollte der Unternehmer von der privatrechtlichen Haftpflicht befreit werden. Die gesetzliche Unfallversicherung tritt praktisch an die Stelle des haftpflichtigen Unternehmers bzw. der ihm gleichgestellten Arbeitnehmer (Haftungsersetzungsprinzip).[483] Für den Unternehmer wurde, wie auch § 162 SGB VII[484] dokumentiert, das Risiko von Arbeitsunfällen damit kalkulierbar.[485]
Im Gegenzug erhält der Arbeitnehmer (aber auch seine Familie bzw. seine Hinterbliebenen) einen Schadenausgleich unabhängig von eigenem oder fremdem Verschulden (soziales Schutzprinzip).
Soweit unter Kollegen ebenfalls ein Haftungsausschluss statuiert ist, kann zwar das Finanzierungsargument nicht herangezogen werden. In diesem Zusammenhang ist aber hervorzuheben, dass die Arbeitnehmer (ebenso wie Schüler und Lehrer) in einer Funktions- und Gefahrengemeinschaft stehen,[486] in der bereits durch leichte Unachtsamkeit einem Arbeitskollegen großer Schaden zugefügt werden kann. Es besteht also auch hier – nicht zuletzt im Interesse des Betriebsfriedens[487] – ein Interesse an wechselseitigem Verzicht auf mögliche Schadenersatzansprüche bei gleichzeitiger hoher materieller Absicherung durch den UVT.
 

Rz. 853

Von der gesetzlichen Unfallversicherung profitieren ausgewogen Arbeitnehmer und Unternehmen,[488] und zwar unabhängig von dem Umstand, welcher der Beteiligten sich gerade in der Rolle des Schädigers oder der des Geschädigten befindet; es ist häufig ja Zufall, wer Täter und wer Opfer ist, manchmal ist man beides sogar in einer Person.

 

Rz. 854

Der BGH[489] bringt es auf den Punkt:

Zitat

Die gesetzliche Unfallversicherung verlagert den Schadensausgleich bei Arbeitsunfällen – und den diesen unter anderem gleichgestellten Schulunfällen – aus dem individualrechtlichen in den sozialrechtlichen Bereich. Die zivilrechtliche Haftung des Unternehmers – beziehungsweise bei Schulen des Sachkosten-/Schulträgers (§ 136 III Nr. 3 SGB VII) – für fahrlässiges Verhalten bei Personenschäden gegenüber dem Arbeitnehmer oder Schüler wird durch die öffentlich-rechtliche Leistungspflicht der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung abgelöst (§ 104 SGB VII). Mit dieser Ablösung einher geht eine entsprechende Haftungsfreistellung aller Betriebs- und Schulangehörigen bei Betriebs- und Schulunfällen (§ 105 SGB VII).

Die gesetzliche Regelung dient zum einen dem Schutz des Geschädigten durch Einräumung eines vom Verschulden unabhängigen Anspruchs gegen einen leistungsfähigen Schuldner. Der Geschädigte muss weder ein Verschulden des Schädigers nachweisen noch sich ein eigenes Mitverschulden auf seine Ansprüche anrechnen lassen. Diese werden vielmehr ohne Verzögerung durch langwierige und mit einem Prozessrisiko behaftete Auseinandersetzungen mit dem Schädiger von Amts wegen festgestellt. Zum anderen dienen die Enthaftung des Unternehmers, der durch seine Beiträge die gesetzlichen Unfallversicherung mitträgt und für den dadurch auch das Unfallrisiko kalkulierbar wird, und die Enthaftung der Betriebsangehörigen dem Betriebsfrieden. Selbst wenn der Haftungsausschluss, der nicht für Vorsatz und für Sachschäden gilt, nicht schlechthin den Frieden im Betrieb oder in der Schule garantieren kann, so ist er doch geeignet, Anlässe zu Konflikten einzuschränken.

Hinzukommt, dass die Betriebs- oder Schulgemeinschaft auch eine Gefahrengemeinschaft darstellt. Wer heute als Geschädigter auf Leistungen der Unfallversicherung verwiesen wird, kann morgen schon derjenige sein, dem die Enthaftung für Fahrlässigkeiten zugute kommt. Diese Ko...

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