Rz. 17

Die frühindustriellen Produktionsformen mit ihren gefährlichen Fabrikanlagen brachten das Bedürfnis mit sich, die Existenz der Fabrikarbeiter bei Arbeitsunfällen zu sichern. Weder die nach den damaligen Gegebenheiten bestehende soziale Absicherung (Familie, persönliche Beziehung zum Dienstherrn) noch das zivilrechtliche Haftungssystem genügten, um einen angemessenen wirtschaftlichen Schutz weder des Arbeiters noch seiner Familie zu gewährleisten.

 

Rz. 18

Dies war die hauptsächliche Ursache für die Errichtung der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund des Unfallversicherungsgesetzes vom 6.7.1884.[9] Nach der hierdurch normierten Konzeption hatten die Unternehmer die Gesetzliche Unfallversicherung zu finanzieren; im Gegenzug – als rechtspolitischer Ausgleich – wurde ihnen die zivilrechtliche Haftung gegenüber ihren Beschäftigten erlassen. Aus dieser rechtspolitischen Sicht rechtfertigt sich der Haftungsausschluss gerade aus der Errichtung der Gesetzlichen Unfallversicherung, weil diese nach Maßgabe von § 150 SGB VII ihrerseits von den Arbeitgebern finanziert wird. Sie rechtfertigt sich aber auch deshalb, weil die Haftungsersetzung, das heißt die Ersetzung der Arbeitgeberhaftung durch die Haftung der Berufsgenossenschaften letztlich der Wahrung des betrieblichen Friedens dient.[10]

 

Rz. 19

Das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) von 1963 hatte die Erstreckung des Haftungsausschlusses auf die Arbeitskollegen zur Folge. Rechtspolitische Erwägung war in erster Linie die Wahrung des Betriebsfriedens. Die damit gegebene betriebliche Friedensfunktion der Vorschrift (früher 637 RVO a.F., nunmehr § 105 SGB VII) soll ihrem Anliegen nach Streitigkeiten zwischen Arbeitskollegen verhindern. Letztlich geht es aber auch hier um eine Beschränkung der Arbeitgeberhaftung, weil ohne die Ausdehnung der Haftungsbeschränkung eine Haftung des Unternehmers im Wege des Freistellungsanspruchs bestünde.

 

Rz. 20

Für die Ausdehnung des Haftungsausschlusses – und damit einhergehend: des Schutzes der gesetzlichen Unfallversicherung – auf weitere gesellschaftliche Bereiche (z.B. Katastrophenhilfe und Schule; vgl. die in § 106 SGB VII genannten Personengruppen) waren dagegen nicht Gründe des "Betriebsfriedens", sondern ausschließlich sozialpolitische Erwägungen maßgebend.

 

Rz. 21

Zusammenfassend: Das Haftungsprivileg der §§ 104 ff. SGB VII bezweckt zum einen, mit der aus den Beiträgen der Unternehmer finanzierten, verschuldensunabhängigen Unfallfürsorge die zivilrechtliche auf Verschulden gestützte Haftung der Unternehmer abzulösen, indem sie über die Berufsgenossenschaften von allen dazugehörigen Unternehmen gemeinschaftlich getragen und damit für den jeweils betroffenen Unternehmer kalkulierbar wird (Haftungsersetzung). Sie dient dem Unternehmer als Ausgleich für die allein von ihm getragene Beitragslast (sog. Finanzierungsargument). Zum andern soll mit ihr der Betriebsfrieden im Unternehmen zwischen diesem und den Beschäftigten sowie den Beschäftigten untereinander gewahrt werden (sog. Friedensargument).[11] Letzteres (Friedensargument) ist unter anderem der Grund für die unterschiedliche Behandlung von Schädiger und Geschädigtem bei der Eingliederung (Rdn 64 ff.).

[9] RGBl, S. 69.
[10] Kritisch Schloën, Berufsgenossenschaft 1987, 150.
[11] Zu alledem ausdrücklich BGH, Urt. v. 27.6.2006 – VI ZR 143/05, BGHZ 168, 161 = VersR 2006, 1429 = NJW 2006, 3563.

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