Rz. 164

Die Körperverletzung ist zunächst nur eine immaterielle Einbuße. Erst später kann daraus auch ein materieller Schaden erwachsen: Ein solcher Schaden erwächst aber nicht immer und schon gar nicht zwingend. Der Arbeitskraft als solcher kommt kein Vermögenswert zu; ihr Wegfall allein stellt deshalb auch bei normativer Betrachtung keinen Schaden im haftungsrechtlichen Sinne dar.[216]

 

Rz. 165

Derjenige, der seine Arbeitskraft nicht verwerten will (Rentner,[217] Pensionär, Arbeitsunwilliger), kann bei Aufhebung oder Minderung seiner Arbeitskraft keinen Ersatz für Erwerbsschaden beanspruchen.[218]

 

Rz. 166

Wer seinen Lebensunterhalt mit Einkünften aus Kapitalvermögen, Vermietung, Verpachtung, Erbmasse oder Lottogewinn bestreitet (auch der Bonvivant) und durch die Körperverletzung daran nicht gehindert wird, hat keinen Erwerbsschaden.[219]

 

Rz. 167

Gleiches gilt für Personen, die bereits unfallfremd nicht in der Lage sind, ihre Arbeitskraft wirtschaftlich zu verwerten (Arbeitsunfähige,[220] i.d.R. auch in beschützender Werkstatt Untergebrachte[221]). Dieses kann auch für Strafgefangene gelten.

 

Rz. 168

Ebenso erleidet derjenige, der nicht gegen Entlohnung, sondern wohltätig, gemeinnützig oder caritativ tätig ist, keinen Erwerbsschaden (siehe auch § 8 Rn 61).[222] Ein solcher Schaden kann auch nicht fiktiv angesetzt werden. Gerade in diesem sozial-caritativen Bereich kommen weniger materielle Gründe (Verwertung von Arbeitskraft) als ideelle Wertvorstellungen zum Tragen (so dass man allenfalls an eine Berücksichtigung im Rahmen von § 253 II BGB – für Unfälle bis 31.7.2001 noch § 847 BGB aF – denken kann). Materielle Einbußen (allerdings ohne eine Ersatzberechtigung) hat nur der mittelbar Geschädigte, d.h. diejenige Institution, für die die verletzte Person tätig war.

 

Rz. 169

 

Beispiel 3.7

Frau Huber verwaltet jeden Samstag in der Pfarrgemeinde die Bibliothek. Sie erhält hierfür keine Gegenleistung der Gemeinde, sondern arbeitet "für Gottes Lohn".

Ergebnis:

Mangels entgangener entgeltlicher Tätigkeit hat Frau Huber keinen ersatzfähigen Verdienstausfallschaden erlitten.
Wenn Frau Huber aufgrund einer Verletzung ausfällt, muss die Gemeinde u.U. durch von ihr zu bezahlende Kräfte diesen Verlust auffangen, ohne dafür allerdings Schadenersatz aus eigenem (Gemeinde ist nur mittelbar geschädigt) oder von Frau Huber abgetretenem Recht (in ihrer Person sind bereits keine Ansprüche entstanden) verlangen zu können.
 

Rz. 170

Der Erwerbsschaden ist entgelt-orientiert, nicht arbeitswert-orientiert. Entscheidend ist, dass durch den Ausfall oder die Beeinträchtigung der Arbeitskraft ihr gewinnbringender Einsatz unterblieben oder eingeschränkt ist. Erst die negativen Auswirkungen des Ausfalls der Arbeitskraft stellen einen Schaden im haftungsrechtlichen Sinne dar.[223] Dieser Problematik begegnet man gerade beim Erwerbsschaden des Selbstständigen (siehe § 5 Rn 84 ff.).

 

Rz. 171

Der bloße Wegfall oder die Beeinträchtigung (ausgedrückt durch prozentuale Minderung der Erwerbsfähigkeit) der Arbeitskraft an sich stellt – anders als im Sozialrecht – noch keinen ersatzfähigen Nachteil bzw. ausgleichsfähigen Vermögenswert dar (siehe auch § 13 Rn 47).[224] Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wird nicht konkret bestimmt, sondern anhand sozialrechtlicher Maßstäbe abstrakt nach der sog. Gliedertaxe. Diese abstrakte Minderung der Erwerbsfähigkeit ist nicht gleichbedeutend mit einer konkreten finanziellen Einbuße und kann daher nicht auf das Schadenersatzrecht übertragen werden.[225] Häufig kann der Verletzte weiter seiner früheren Tätigkeit oder anderen Tätigkeiten nachgehen, ohne unfallbedingte Verdiensteinbußen hinnehmen zu müssen: Ein Schadensersatzanspruch entfällt dann ganz oder teilweise.

 

Rz. 172

 

Beispiel 3.8

Während ein beinamputierter (MdE 80 %) Versicherungskaufmann im Innendienst verletzungsbedingt nicht unbedingt eine Verdiensteinbuße hinzunehmen hat, muss demgegenüber vielleicht ein in der Feinmotorik der rechten Hand nur leicht gestörter (MdE u.U. ≤ 20 %) Uhrmacher oder Feinmechaniker unter Verdiensteinbußen seinen Beruf wechseln.[226]

 

Rz. 173

I.d.R. entfällt eine messbare Verdiensteinbuße (aber auch ein Haushaltsführungsschaden, dazu näher siehe § 8 Rn 23, dort Fn 21, ferner § 4 Rn 522) bei einer festgestellten MdE von 20 % oder weniger.[227]

 

Rz. 174

Bei der Ermittlung eines nach den §§ 842, 843 BGB zu ersetzenden Erwerbsschadens darf auch unter Berücksichtigung der Beweiserleichterungen nach § 252 2 BGB, § 287 I ZPO einem Verletzten, dessen Arbeitskraft unfallbedingt beeinträchtigt ist, nicht ohne hinreichende Anhaltspunkte dafür, wie sich seine Erwerbstätigkeit ohne das Unfallereignis voraussichtlich entwickelt hätte, pauschal ein abstrakt geschätzter "Mindestschaden" zugesprochen werden.[228] Verlangt ein Verletzter wegen aufgehobener oder geminderter Erwerbsfähigkeit Schadenersatz, hat er konkret darzutun und nachzuweisen, dass er auch eine Erwerbseinbuße erlitten hat.[229] Eine abstrakte Berechnung ohne Berücksichtigun...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge