Rz. 143

Höchst umstritten ist demgegenüber die Frage, ob die Arbeitnehmervertretung dem Arbeitgeber im Wege des einstweiligen Verfügungsverfahrens auch aufgeben lassen kann, die Durchführung der Massenentlassung, mithin den Ausspruch der Kündigungen zu unterlassen, bis das Konsultationsverfahren abgeschlossen ist.

 

Rz. 144

Die Anerkennung eines allgemeinen Unterlassungsanspruchs ist ursprünglich im ­Zusammenhang mit Betriebsänderungen i.S.v. §§ 111 ff. BetrVG diskutiert worden. Ein Anspruch des Betriebsrats, die Durchführung der Betriebsänderung bis zum ­Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen zu unterlassen, wird von den ­Instanzgerichten zum Teil bejaht,[283] zum Teil verneint,[284] wobei in einem Nord-Süd-Gefälle die Arbeitsgerichte in Norddeutschland einen Unterlassungsanspruch eher ­zusprechen als in Süddeutschland. Eine Entscheidung des BAG dazu existiert nicht, da im einstweiligen Verfügungsverfahren gemäß § 542 Abs. 2 S. 1 ZPO die Rechtsbeschwerde zum BAG nicht zugelassen ist. Allerdings hat das BAG in anderem Zusammenhang in einer früheren Entscheidung angedeutet, einem Unterlassungsanspruch zur Absicherung des Beratungsanspruchs aus § 112 BetrVG eher ablehnend gegenüberzustehen.[285]

 

Rz. 145

Gegen die Annahme eines Unterlassungsanspruchs wird angeführt, dass die Verpflichtung zum Nachteilsausgleich gemäß § 113 BetrVG und die Ahndung der Pflichtverletzung als bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit gemäß § 121 BetrVG hinreichend Druck auf den Arbeitgeber ausübe, seine Beratungspflichten zu erfüllen. Da der Betriebsrat keinen Anspruch auf Abschluss eines Interessenausgleichs habe, sondern lediglich die Beratung hierüber verlangen könne, gehe ein auch nur zeitlich begrenzter Unterlassungsanspruch inhaltlich über das Beratungsrecht des § 111 BetrVG hinaus. Zudem habe der Gesetzgeber im Zuge der Reform des BetrVG 2001 davon abgesehen, einen Unterlassungsanspruch zu normieren, obgleich entsprechende Forderungen im Rahmen des ­Gesetzgebungsverfahren erhoben worden seien. Dies lasse nur den Schluss zu, dass die Anerkennung eines Unterlassungsanspruchs nicht dem Willen des Gesetzgebers entspreche.[286] Dem wird entgegengehalten, dass nur durch die Anerkennung eines Unterlassungsanspruchs eine effektive Sicherung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats ­möglich sei. Die Sanktion des § 113 BetrVG sei angesichts der Anrechenbarkeit des Nachteilsausgleichs auf Sozialplanansprüche ein stumpfes Schwert und auch ein Bußgeld von bis zu 10.000 EUR sei kein wirkliches Druckmittel, das den Arbeitgeber abhalten könne, die Betriebsänderung zeit- und geldsparend ohne Beratung mit dem Betriebsrat durchzuführen.[287]

 

Rz. 146

Die Diskussion um diese Frage ist mittlerweile um unionsrechtliche Aspekte bereichert worden. Das LAG München[288] bspw. hat einen Unterlassungsanspruch auch unter Rückgriff auf Art. 8 Abs. 1 S. 2 der Richtlinie 2002/14/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der EG bejaht. Dieser verpflichte die Mitgliedsstaaten, ein geeignetes Gerichtsverfahren zur Verfügung zu stellen, mit dessen Hilfe die in Art. 4 der Richtlinie 2002/14/EG genannten Unterrichtungs- und Anhörungsrechte durchgesetzt werden können. Auch fordere Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2002/14/EG die Statuierung angemessener Sanktionen. Da der nationale Gesetzgeber diese Richtlinie nicht umgesetzt habe, seien ihre Inhalte im Rahmen richtlinienkonformer Auslegung zu berücksichtigen. Dieses vom europä­ischen Recht geforderte Nebeneinander verfahrenssichernder Maßnahmen und Sanktionen bei Verstößen gebiete, dem Betriebsrat einen Unterlassungsanspruch neben dem individualrechtlichen Nachteilsausgleichanspruch des Arbeitnehmers zu gewähren. Dieser sei auch nicht auf den Zeitraum bis zum Abschluss der nach § 111 S. 1 BetrVG erforderlichen Beratung zu beschränken. Wenn auch der Betriebsrat keinen Anspruch auf den Abschluss eines Interessenausgleichs habe, so könne er doch im Interessenausgleichsverfahren weitergehend als in einer vorangegangenen bloßen Beratung, etwa durch die Vermittlung des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit oder der Einigungsstelle die Interessen der Beschäftigten zu wahren suchen.[289] Vergleichbare Erwägungen werden hinsichtlich möglicher Unterlassungsansprüche des Europäischen Betriebsrats und des SE-Betriebsrats angestellt.[290] Gegen eine den Unterlassungsanspruch des Europäischen Betriebsrats demgegenüber ablehnende Entscheidung des LAG Baden-Württemberg vom 12.10.2015 ist mittlerweile die Rechtsbeschwerde am BAG anhängig.[291]

 

Rz. 147

Auch aus Art. 6 der Richtlinie 98/59/EG zur Massenentlassung lassen sich Erwägungen zur Bejahung eines Unterlassungsanspruchs der Arbeitnehmervertretung herleiten. Dieser fordert die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ausdrücklich nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für die Arbeitnehmervertretung. Auch wenn die Annahme der Nichtigkeit einer Kündigung, der kein ordnungsgemäßes Konsultationsverfahren vorangegangen ist, durchau...

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