A. Gefahren und Gestaltungsziele

 

Rz. 1

Eltern geistig oder körperlich behinderter Kinder geraten oftmals in einen Interessenkonflikt: Auf der einen Seite möchten sie, dass ihr behindertes Kind auch nach ihrem Ableben bestmöglich versorgt ist. Auf der anderen Seite ist es für sie nur schwer hinnehmbar, dass ihr hinterlassenes Vermögen für die gesetzlichen Leistungen vollständig verbraucht wird, ohne dass das Kind von der Erbschaft einen Vorteil hat. Ohne die Errichtung einer speziellen letztwilligen Verfügung würde der Sozialleistungsträger den Erbanteil bzw. den Pflichtteil des behinderten Kindes für die gesetzlichen Leistungen einsetzen. Die Kosten einer stationären Unterbringung betragen monatlich etwa 2.500 bis 3.500 EUR und können sich je nach Grad der Behinderung auf ein Mehrfaches hiervon addieren.[1] Erst wenn dieses von den Eltern stammende Vermögen des behinderten Kindes aufgebraucht ist, übernimmt wieder die Allgemeinheit über den Sozialleistungsträger die Kosten für das behinderte Kind.

Der Wunsch der Eltern besteht zumeist darin, dass der Sozialleistungsträger weiterhin die gesetzlichen Leistungen für das behinderte Kind übernimmt und der Lebensstandard des behinderten Kindes nach dem Erbfall durch seine Nachlassbeteiligung dauerhaft über das wirtschaftliche Niveau der Sozialhilfe angehoben wird. Dies ist das primäre Gestaltungsziel eines "Behindertentestamentes".[2] Es gilt, den Zugriff des behinderten Kindes und damit des Sozialleistungsträgers auf die Substanz und Erträge des ererbten Vermögens zu verhindern. Hierzu wird ein Testamentsvollstrecker bestimmt und mittels Verwaltungsanweisungen festgelegt, welche Leistungen das behinderte Kind dauerhaft aus dem Nachlass erhalten soll. Bei der Gestaltung eines Behindertentestaments ist sicherzustellen, dass dem behinderten Menschen als gesetzlichem Erbberechtigten auch Vermögen aus dem Nachlass zufließt, gleichzeitig durch diesen Zufluss aber keine Minderung der staatlichen Unterstützungsleistung eintritt. Dadurch soll nicht allein das Vermögen in der Familie erhalten werden, sondern auch eine Versorgung des behinderten Menschen abgesichert werden und zwar so, dass er neben den staatlichen Hilfen ein "Mehr" erhält.

Ist zumindest ein weiteres Kind vorhanden, wünschen sich Eltern zumeist, dass nach dem Ableben des behinderten Kindes ihr Vermögen innerhalb der Familie weitergegeben wird. Dieses sekundäre Gestaltungsziel ist bei der Konzipierung eines Behindertentestaments ebenfalls zu beachten. Dieses Ziel wird erreicht, indem entweder das behinderte Kind zum Vorerben oder zum Vorvermächtnisnehmer eingesetzt wird.[3]

Die Konzipierung von Behindertentestamenten ist höchst anspruchsvoll, zumal der Berater auch über Kompetenzen im Sozialrecht verfügen muss. Auch ist es erforderlich, sehr individuelle letztwillige Verfügungen zu entwickeln, also sehr auf die Bedürfnisse des Einzelfalls einzugehen. Daher wird ergänzend auf weitere Literatur verwiesen.[4]

 

Rz. 2

Wenngleich die Ausgangslage eines bedürftigen Kindes, Ehepartners oder eines zu begünstigenden Dritten, die entweder überschuldet sind, von der Sozialhilfe bzw. Alg II leben oder beides, tatsächlich nicht mit der Situation bei einem behinderten Kind vergleichbar ist, so ist die rechtliche Ausgangslage und Bewertung nahezu identisch. Das "Bedürftigentestament" wird daher entsprechend wie das "Behindertentestament" gestaltet. Der letztlich maßgebliche Unterschied besteht lediglich darin, dass bei einem Bedürftigen die Bedürftigkeit entfallen kann, sei es nach Beendigung des Restschuldbefreiungsverfahrens, durch eigenes Einkommen oder durch Anfall sonstigen Vermögens, wie auch außergerichtlichen Verständigungen mit den Gläubigern.

Die Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen belegt die schwierige rechtliche Einordnung. Auch im Hinblick auf zukünftige Gesetzesänderungen ist es für den Berater nahezu unmöglich, ein "absolut sicheres" Behinderten- bzw. Bedürftigentestament zu konzipieren. Aufgrund der bei jedem Fall unterschiedlichen tatsächlichen Ausgangslage und Risikobereitschaft der Eltern verbieten sich schematische Lösungen. Eine "maßgeschneiderte" Nachfolgeregelung kann der beauftragte Rechtsanwalt bzw. Notar erst dann entwerfen, nachdem er sich ausführlich mit den rechtlichen Grundlagen und Gestaltungsvariationen auseinandergesetzt hat.

[1] Hammann, FuS 2018, 50, 51.
[2] Braun, Nachlassplanung bei Problemkindern, § 2 Rn 34.
[3] Zu den Grundstrukturen: Wendt, ZNotP 2008, 2, 3.
[4] Ruby/Schindler, Das Behindertentestament; Braun, Nachlassplanung bei Problemkindern; Groll/Steiner/Krauß, Erbrechtsberatung, Das Behinderten- und Bedürftigentestament; Keim/Lehmann/Tersteegen, Beck’sches Formularbuch Erbrecht, 4. Aufl. 2019, Verfügungen bei einem behinderten Kind, Abschnitt F. I.; Dorsel/Perau, Kölner Formularbuch ErbR, Sicherung des Erbes bei drohender Verwertung durch Dritte.

B. Sozialrechtliche Grundlagen

I. Anspruchsgrundlagen auf Hilfeleistung

 

Rz. 3

Seit dem 1.1.2005 sind die staatlichen steuer- und nicht beitragsfinanzierten Sozialleistungen von Grund auf wie folgt reformiert worden:

Wird ein Erwerbsfähiger arbeits...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge