Rz. 63

Errichten Ehepartner ein gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben einsetzen, für den Schlusserbfall unter Berücksichtigung einer behindertengerechten Gestaltung letztwillig verfügen und im Übrigen eine Pflichtteilsklausel anordnen, die einen Ausschluss von der Schlusserbfolge vorsieht, wenn ein Abkömmling den Pflichtteil verlangt, stellt sich die Frage, ob die Pflichtteilsklausel mit ihrer Enterbungsfunktion eine Geltendmachung des übergeleiteten Pflichtteils im ersten Erbfall verhindern kann. Diese lange streitige Frage hat der BGH[170] verneint: Der Sozialleistungsträger kann demnach trotz der Pflichtteilsstrafklausel bereits im ersten Erbfall den Pflichtteilsanspruch des behinderten Kindes auf sich überleiten; es steht ihm im Sozialhilferecht ein Ermessen bei dieser Entscheidung nach § 93 Abs. 1 S. 1 SGB XII zu.

Ein Jahr zuvor hatte der BGH sich mit einem ähnlichen Fall zu beschäftigen: Wird durch Geltendmachung des Pflichtteils durch den Sozialleistungsträger im ersten Erbfall als Sanktion ausgelöst, dass das behinderte Kind aufgrund der Pflichtteilsstrafklausel enterbt ist? Das hätte die Folge, dass der Sozialleistungsträger dann auch im zweiten Erbfall den Pflichtteil auf sich überleiten kann. Der BGH[171] nahm eine einschränkende Auslegung der Pflichtteilsstrafklausel "unter Berücksichtigung ihres Sinns im Gesamtzusammenhang des Testamentes" in die Richtung vor, dass das Kind mit Behinderungen im zweiten Erbfall nicht enterbt ist. Wenn die Eltern die Folgen der Verwirkungsklausel erkannt hätten, hätten sie die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs nach dem ersten Erbfall vom Anwendungsbereich der Verwirkungsklausel ausgenommen.

Für die Testamentsgestaltung bedeutet das, dass eine Pflichtteilsstrafklausel zu Lasten des Behinderten nicht zweckmäßig ist. Dass der Abkömmling den Pflichtteilsanspruch wegen familienhafter Rücksichtnahme gegenüber dem Erben nicht geltend machen will, führt im Übrigen sozialleistungsrechtlich nicht zu seiner Unverwertbarkeit. Ein solcher Gesichtspunkt kann nur im Rahmen der Prüfung der besonderen Härte i.S.d. § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 SGB II eine Rolle spielen.[172]

[170] BGH ZEV 2006, 76 (zust. Wendt, ZNotP 2008, 2, 9); OLG Karlsruhe ZEV 2004, 26, 27; van de Loo, ZEV 2006, 473, 476.
[171] BGH ZEV 2005, 117, 119 m. abl. Anm. Muscheler.

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