Rz. 270

Es gibt keine allgemeine Rechtspflicht, andere vor Schäden zu bewahren.[590] Die Haftung wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht setzt voraus, dass jemand eine Gefahr schafft oder in seinem Bereich andauern lässt. Deshalb haftet der Passant nicht, der beim Spazierengehen in einem öffentlichen Park entdeckt, dass die Parkwege vereist und deshalb glatt sind. Denn diese Gefahr dauert nicht in seinem Bereich an. Der Verkäufer eines Kfz ist nicht verpflichtet, die Personalien eines Kaufinteressenten, dem er das Fahrzeug für eine Probefahrt überlässt, festzuhalten, um späteren Opfern eines Unfalls nach der Unterschlagung des Fahrzeugs durch den Kaufinteressenten den Namen nennen zu können.[591]

 

Rz. 271

Rechtsprechung und Literatur haben verschiedene Klassifikationssysteme zur Systematisierung der Entstehungsgründe von Verkehrssicherungspflichten gebildet. Während manche lediglich Sicherungs- von Fürsorgepflichten unterscheiden,[592] werden überwiegend vier große Fallgruppen gebildet, die sich teilweise überschneiden: (1) Beherrschung eines bestimmten Sachbereichs (Bereichshaftung); (2) Eröffnung und Veranstaltung eines Verkehrs; (3) Schaffung einer Gefahr oder besonderer Gefahrenlage und (4) Übernahme einer Aufgabe (berufs- und amtsspezifische Verkehrssicherungspflichten).[593] Einigkeit besteht darüber, dass die inhaltlichen Unterschiede der Fallgruppen gering sind und die konkrete Ausgestaltung der Situation entscheidend ist.[594]

[590] Die Rechtsprechung nennt eine solche Pflicht "utopisch", vgl. BGH, Urt. v. 5.7.2019 – V ZR 96/18, juris Rn 14.
[591] BGH, Urt. v. 26.11.1996 – VI ZR 97/96, NJW 1997, 660 (661).
[592] MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn 397 ff.
[593] BeckOGK/Spindler, BGB, § 823 Rn 387 ff.; Staudinger/Hager; § 823 Rn E 12 ff.
[594] BeckOGK/Spindler, BGB, § 823 Rn 389; Staudinger/Hager; § 823 Rn E 12; Mertens, VersR 1980, 397 (398).

a) Beherrschung eines bestimmten Sachbereichs (Bereichshaftung)

 

Rz. 272

Die Beherrschung eines bestimmten Bereichs, aus dem Gefahren für Dritte resultieren können, führt zu einer Zustandsverantwortlichkeit des berechtigten Inhabers der tatsächlichen Gewalt. Dies meint die Formulierung der Rechtsprechung: Wer eine Gefahr schafft oder sie in seinem Verantwortungsbereich andauern lässt, muss die erforderlichen Maßnahmen und Vorkehrungen treffen, um daraus für Dritte entstehende Gefahren abzuwenden.[595] Es geht daher nicht (nur) um Gefahrschaffung, sondern darum, dass jeder für den Zustand seines Bereichs einzustehen hat.[596] Die Verkehrssicherungspflicht kraft Beherrschung eines bestimmten Sachbereichs trifft zwar oft den Eigentümer, sie hängt aber nicht vom Eigentum ab. Entscheidend ist das Innehaben der tatsächlichen Sachherrschaft,[597] so dass auch Mieter und Pächter verkehrssicherungspflichtig sind.

Für die Bereichshaftung ist unerheblich, wer die Gefahr geschaffen hat. Derjenige, der die Gefahr geschaffen hat, muss nicht derjenige sein, der die Gefahr in seinem Bereich andauern lässt.[598] So haftet der Eigentümer eines Grundstücks einem Dritten, der in eine Grube auf seinem Grundstück fällt, auch wenn nicht er, sondern ein von ihm beauftragter Bauunternehmer die Grube ausgehoben und nicht gesichert hat. Die Bereichshaftung kann also neben die Haftung desjenigen treten, der die Gefahr geschaffen hat.[599] In dem Beispielsfall haften beide als Gesamtschuldner. Die Verantwortung für den eigenen Bereich umfasst auch bewegliche Sachen. Wer Waffen, Sprengstoff, Arzneien oder gefährliche Chemikalien besitzt, hat sie so zu verwahren, dass Dritte nicht zu Schaden kommen.[600]

 

Rz. 273

Wer in einer Wohnungseigentümergemeinschaft (Verband) für die Verletzung einer auf das Gemeinschaftseigentum bezogenen Verkehrssicherungspflicht haftet, ist bislang noch nicht abschließend höchstrichterlich geklärt. Anerkannt ist insoweit nur, dass ein nicht dem Verband angehörender Dritter diesen in Anspruch nehmen kann, wobei sich der Verband gemäß §§ 31, 89 BGB analog sowohl das schuldhaft pflichtwidrig organschaftliche Verhalten des Verwalters als auch das Organisationsverschulden der Wohnungseigentümer zurechnen lassen muss. Streitig ist, ob es sich bei Verkehrssicherungspflicht um eine originäre Pflicht des Verbandes gemäß § 10 Abs. 6 S. 2 WEG handelt oder ob die Wohnungseigentümer als Grundstückseigentümer verkehrssicherungspflichtig sind und eine Haftung des Verbands deshalb auf der in § 10 Abs. 6 S. 3 Hs 1 WEG angeordneten "Wahrnehmung" von gemeinschaftsbezogenen Pflichten der Wohnungseigentümer beruht. Ungeklärt ist zudem, ob die Wohnungseigentümer selbst verkehrssicherungspflichtig bleiben und von dem außenstehenden Dritten neben dem Verband auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden können. Schließlich ist bislang nicht entschieden, ob im Falle der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht eine Haftung des Verbandes nur gegenüber Dritten besteht oder ob auch ein Wohnungseigentümer einen deliktischen Schadensersatzanspruch gegen den Verband haben kann.[601]

[595] St. Rspr., vgl. BGH, Urt. v. 25.2.2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104 Rn 8 m.w.N.
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