Rz. 93

Bis heute streiten die Lehre vom Erfolgsunrecht und die Lehre vom Handlungsunrecht darüber, nach welchem Maßstab die Rechtswidrigkeit zu bestimmen ist.

 

Rz. 94

Nach der Lehre vom Erfolgsunrecht wird die Rechtswidrigkeit durch die Verletzung eines der durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgüter indiziert (anders bei sog. Rahmenrechten). Der Schädiger kann dem Rechtswidrigkeitsurteil entgegentreten, indem er das Bestehen eines Rechtfertigungsgrundes darlegt und notfalls beweist.

Nach der Lehre vom Handlungsunrecht reicht alleine der Erfolgseintritt nicht aus, um die Schädigungshandlung als rechtswidrig erscheinen zu lassen; darüber hinaus muss ein Verstoß gegen bestimmte Verhaltensregeln positiv festgestellt werden.

 

Rz. 95

Die wohl herrschende Lehre und Praxis vertritt eine vermittelnde Ansicht. Sie differenziert zwischen unmittelbaren und mittelbaren Eingriffen in die von § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgüter.

 

Rz. 96

Bei unmittelbaren Eingriffen in ein geschütztes Rechtsgut indiziert die Rechtsgutverletzung die Rechtswidrigkeit, wobei der Schädiger das Indiz der Rechtswidrigkeit durch Darlegung und Beweis eines Rechtfertigungsgrundes widerlegen kann.[164] Das verbotene Verhalten wird in diesem Fall allerdings nicht in der vollendeten Rechtsverletzung gesehen, sondern schon in der – unmittelbaren – Gefährdung eines absoluten Rechts oder Rechtsguts – sog. gefährdungsbezogene Rechtswidrigkeit.[165] Begeht z.B. ein Sportler einen (objektiven) Regelverstoß (Hineingrätschen in die Beine eines Mitspielers) und verursacht er dadurch die Körperverletzung des Mitspielers, ist von einer rechtswidrigen Körperverletzung auszugehen.[166]

 

Rz. 97

Von der Rechtsordnung anerkannte Rechtfertigungsgründe sind insbesondere Notwehr, Notstand und die Einwilligung des Geschädigten (dazu näher unten Rdn 102 ff.). Letztere spielt im Arzthaftungsrecht (dazu § 11 Rdn 1 ff.) und beim Sport (dazu Rdn 134 ff.) eine entscheidende Rolle. Ist ein Rechtfertigungsgrund bewiesen, wird die Schuldprüfung gegenstandslos, weil es schon an einer rechtswidrigen Schadenszufügung fehlt. Ist dagegen die Frage des verkehrsrichtigen Verhaltens des Schädigers ungeklärt, so ist von einer rechtswidrigen Verletzungshandlung auszugehen. Die Haftungsfrage ist damit noch nicht entschieden. Denn § 823 Abs. 1 BGB setzt weiter voraus, dass die Verletzungshandlung schuldhaft geschah. Der Geschädigte muss also beweisen, dass der Schädiger vorsätzlich oder im Sinne des § 276 Abs. 2 BGB fahrlässig gehandelt, also die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat.

 

Rz. 98

Bei Handlungen, die nur mittelbar zur Verletzung eines geschützten Rechts führen,[167] und bei Unterlassungen ist bereits im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung zu untersuchen, ob dem Schädiger ein Sorgfaltspflichtverstoß, etwa die Verletzung einer Verkehrspflicht, zur Last fällt – sog. verbotsbezogene Rechtswidrigkeit. Im Einzelnen ist hier manches streitig.[168] Soweit ein mittelbarer Eingriff vorliegt, muss jedenfalls die Pflichtverletzung positiv festgestellt werden, ihre Rechtswidrigkeit kann wiederum durch den Nachweis eines Rechtfertigungsgrundes widerlegt werden. Bei nur mittelbarer Verletzung stellt sich zudem häufig die Frage nach dem Zurechnungszusammenhang.[169]

 

Rz. 99

Damit ist ein brauchbarer Maßstab für die praktische Bewertung der Rechtswidrigkeitsfrage gegeben. Die Versuche der Rechtsprechung, die Probleme bei einzelnen Tatbestandsgruppen auch verbal mit möglicherweise nicht ganz überzeugenden dogmatischen Argumenten zu bewältigen, sollten nicht überbewertet werden. So ist etwa die dogmatische Figur des "verkehrsrichtigen Verhaltens"[170] der Versuch, die Probleme des § 831 BGB in den Griff zu bekommen. Ob dies gelungen ist, soll hier nicht weiter vertieft werden.[171] Der Gedanke der Sozialadäquanz, dem die Vorauflage (Kap. 2 Rn 40 ff.) die Entscheidungen BGHZ 24, 21 (Straßenbahn-Entscheidung) und BGHZ 36, 237 (Laternengaragen-Urteil) zuordnet, ist für sich genommen als zivilrechtliches Abgrenzungskriterium nicht ausreichend. BGHZ 24, 21 (S. 26 a.E.) lässt ausdrücklich dahinstehen, ob sich die Entscheidung auf diesen Gedanken zurückführen lässt. BGHZ 36, 237 stützt die Verurteilung der beklagten Gemeinde auf die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht (S. 242 ff., 244). Die Frage nach der Sozialadäquanz eines Verhaltens kann nur Ausgangspunkt für Erwägungen sein, welche die Einschränkung der Haftung im Hinblick auf die evtl. verletzten Verkehrspflichten, den Schutzzweck der in Betracht kommenden Normen und den haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhang zwischen dem Verhalten des in Anspruch Genommenen und der Schadensfolge, insbesondere auch die Abgrenzung zum allgemeinen Lebensrisiko,[172] betreffen.[173]

 

Rz. 100

Einigkeit besteht weitgehend darin, dass bei bestimmten Fallkonstellationen die Rechtswidrigkeit positiv festgestellt werden muss. Dies ist der Fall bei den sog. offenen Verletzungstatbeständen bzw. den Rahmenrechten des § 823 Abs. 1 BGB, also insbesondere bei...

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