Rz. 133

Der Überlassungsanspruch setzt in der ersten Alternative voraus, dass der die Überlassung der Wohnung verlangende Ehegatte in stärkerem Maße als der andere auf die Nutzung der Ehewohnung nach der Scheidung angewiesen ist. Primär ist der unbestimmte Rechtsbegriff des "in stärkerem Maße Angewiesenseins" zu prüfen. Die allgemeinen Billigkeitsgründe der zweiten Alternative sind nur ergänzend, insbesondere in Fällen heranzuziehen, in denen kein Ehegatte stärker als der andere auf die Ehewohnung angewiesen ist.[363]

In stärkerem Maße auf die Nutzung der Ehewohnung angewiesen ist ein Ehegatte dann, wenn das Wohl der im Haushalt lebenden Kinder dies erfordert.[364] Es ist hier im Gegensatz zu § 1361b Abs. 1 BGB keine negative Kindeswohlprüfung im Sinne einer Kindeswohlgefährdung vorzunehmen, sondern eine positive Kindeswohlprüfung in dem Sinne, ob es das körperliche, geistige oder seelische Wohl der Kinder positiv beeinflusst, wenn sie nach der Scheidung mit dem Ehegatten, bei dem sie dann leben sollen, in der Ehewohnung verbleiben. Das Interesse der Kinder am Verbleib in ihrer vertrauten Umgebung führt in aller Regel dazu, dass dem Ehegatten, bei dem sich die Kinder nach der Scheidung gewöhnlich aufhalten (im Sinne von § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB)[365] der Anspruch zusteht. Insbesondere die Ergebnisse von Wallerstein und Lewis[366] haben gezeigt, dass Kinder unter der Trennung und Scheidung der Eltern nicht unwesentlich leiden. Die amerikanischen Scheidungsforscherinnen haben in der ersten Längsschnittuntersuchung auf diesem Gebiet überhaupt, und zwar über 25 Jahre, herausgefunden, dass das kindliche Leiden im Gegensatz zu den Erfahrungen der Erwachsenen seinen Höhepunkt nicht während der akuten Krise erreicht, um danach sukzessiv abzunehmen; vielmehr sind die Trennung und Scheidung für das Kind eine kumulative Erfahrung, deren Auswirkungen im Laufe der Zeit zunehmen. Auf jeder Stufe der Entwicklung werden die Folgen erneut und auf verschiedene Weise erlebt. Außerdem sind sie zu dem Ergebnis gelangt, dass das Mutter und Vater sein in der Nachscheidungs- und Trennungsfamilie unendlich komplexer und schwieriger ist, als dies bislang angenommen wurde. Die elterlichen Funktionen auszuüben, verlange in Trennungs- und Scheidungsfamilien eine heroische Anstrengung und nicht jeder könne ein Held sein. Die mütterlichen Funktionen auszuüben sei besonders schwierig, je jünger die Kinder seien und die Mutter gezwungen sei, wieder voll zu arbeiten.[367] Weitergehend kommt Becker-Stoll[368] im Rahmen ihrer Untersuchungen zur Qualität der außerfamiliären Betreuung zu dem Ergebnis, dass gerade Kinder, die die Trennung von einem Elternteil und die damit verbundenen Veränderungen in ihrem Lebensumfeld erfahren, in erster Linie eine verlässliche und kontinuierliche Zuwendung ihrer primären Bezugsperson, meistens der Mutter, brauchen, um mit der neuen Situation umgehen zu lernen. Zunächst habe eine Phase der Stabilisierung der Lebenssituation Vorrang vor dem Übergang in außerfamiliäre Betreuung.

Beide Untersuchungen zeigen, dass bei einer Elterntrennung Kontinuität für die Kinder in sämtlichen anderen Lebensbereichen besonders wichtig ist. Deshalb steht in der Regel dem Ehegatten der Überlassungsanspruch zu, bei dem sich die Kinder nach der Scheidung gewöhnlich aufhalten (im Sinne von § 1687 Abs. 1 S. 1 BGB), dem die elterliche Sorge oder das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die gemeinschaftlichen Kinder übertragen wird und auch bei dem, bei dem sich die Volljährigen in Ausbildung befindlichen Kinder aufhalten. Anders verhält es sich allein dann, wenn die Kinder bereits mit dem Elternteil, bei dem sie sich gewöhnlich aufhalten, die Ehewohnung verlassen haben und sich an eine andere Wohnung und gegebenenfalls auch ein anderes soziales Umfeld gewöhnt haben.[369]

 

Rz. 134

Die gleichfalls ("und") zu berücksichtigenden Lebensverhältnisse der Ehegatten sind dem gegenüber weniger gewichtig und treten im Zweifel hinter das Kindeswohl zurück. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff soll sicherstellen, dass bei der gerichtlichen Entscheidung wie bisher nach § 2 HausratsVO a.F. auch alle Umstände des Einzelfalls Berücksichtigung finden können.[370] Ist das Kindeswohl nicht ausschlaggebend, insbesondere weil keine Kinder (mehr) in der Ehewohnung leben, kommt es in einer Gesamtabwägung aller Umstände, die die Lebensverhältnisse der Ehegatten bestimmen, darauf an, ob der antragstellende Ehegatte in stärkerem Maße als der andere auf die Ehewohnung angewiesen ist. Bei der Gesamtabwägung sind, immer unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls, in der Regel Alter und Gesundheitszustand der Ehegatten,[371] der Umstand, dass ein Ehegatte die Wohnung schon vor der Eheschließung bewohnt hat,[372] welcher Ehegatte stärker auf die Ehewohnung angewiesen ist oder eher eine geeignete Ersatzwohnung finden kann,[373] in diesem Zusammenhang und allgemein auch die finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten,[374] die Nähe der Wohnung zum Arbei...

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