(a) Maßstab der Kindeswohlbeeinträchtigung

 

Rz. 53

Der unbestimmte Rechtsbegriff der unbilligen Härte wird durch die beiden gleichfalls unbestimmten Rechtsbegriffe der "Beeinträchtigung des Kindeswohls" in § 1361b Abs. 1 S. 2 BGB bestimmt, die freilich ihrerseits nur schwer zu konkretisieren sind; überdies wird mit der "Beeinträchtigung" des Kindeswohls ein neuer Begriff eingeführt, dessen Bedeutung unklar ist.

Schon was unter "Kindeswohl" zu verstehen ist, lässt sich in einer Sachdefinition nicht eindeutig festlegen, eben weil sich unbestimmte Rechtsbegriffe jeglicher Definition entziehen.[157] Paradigmatisch für die Unmöglichkeit einer Definition des Kindeswohls sind die von Dettenborn[158] aus familienrechtspsychologischer Sicht vorgenommenen untauglichen Definitionsversuche. Die Definitionen konkretisieren das Kriterium "Kindeswohl" nicht, sondern ersetzen den unbestimmten Rechtsbegriff durch eine Mehrzahl gleichermaßen aussageschwacher Ausdrücke. In der psychologischen[159] und vor allem der juristischen Literatur[160] ist zutreffend vielfach und wiederholt auf die Inhaltsleere des Kindeswohlskriteriums hingewiesen worden.

 

Rz. 54

Die eine unbillige Härte im Sinne von § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB begründende "Kindeswohlbeeinträchtigung" lässt sich dennoch in gewissem Umfang im Vergleich und Mithilfe der bei anderen Vorschriften bereits herausgearbeiteten Kriterien konkretisieren. Dies führt zu dem Ergebnis, dass der Maßstab der "Kindeswohlbeeinträchtigung" demjenigen der Kindeswohlgefährdung – wie er in den Vorschriften über die elterliche Sorge gebraucht wird – entspricht.

 

Rz. 55

Zunächst geht es bei § 1361b Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB nicht um eine positive Bestimmung dessen, was das Kindeswohl fordert, wie zum Beispiel bei §§ 1671 Abs. 1 Nr. 2, 1680 Abs. 2 S. 2, 1685 Abs. 1, 1686a Abs. 1 Nr. 1, 1741 Abs. 1 S. 1, 1618 Abs. 1 S. 4, 1757 Abs. 4 BGB, sondern um die Abwendung einer "Kindeswohlbeeinträchtigung". Insoweit besteht eine Parallele zu § 1666 Abs. 1 BGB, allerdings deutet der Wortsinn der erforderlichen "Kindeswohlgefährdung" darauf hin, dass der Maßstab bei beiden Normen nicht identisch, sondern bei § 1666 Abs. 1 BGB strenger ist. Die unterschiedliche Wortwahl bedeutet aber praktisch keinen Unterschied, denn wegen der Unbestimmtheit beider Ausdrücke ist eine Abgrenzung nicht möglich.[161] Dies kommt in einer Beschreibung der Kindeswohlgefährdung zum Ausdruck, nach der darunter die begründete Besorgnis zu verstehen sei, dass bei Nichteingreifen des Gerichts das Wohl des Kindes beeinträchtigt ist.[162] Die Gefährdung des Kindeswohls wird also mit dessen "Beeinträchtigung" näher beschrieben. Diederichsen[163] hat zutreffend darauf hingewiesen, dass eine andere häufig gebrauchte Formulierung, nach der eine Kindeswohlgefährdung eine gegenwärtige, in solchem Maße vorhandene Gefahr ist, dass sich bei der weiteren Entwicklung des Kindes eine erhebliche Schädigung mit Sicherheit voraussehen lässt,[164] in der Sache nichts anderes als die erstgenannte bedeutet. Sie ist zur Abgrenzung der "Kindeswohlgefährdung" von "Kindeswohlbeeinträchtigung" schon deshalb gleichfalls unergiebig; hinzu kommt die inhaltliche Unbestimmtheit.

Der Bedeutungszusammenhang von § 1361b Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB und §§ 1666 Abs. 1, 1666a Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB, die Regelungsabsicht der Gesetzgeber, der Zweck von § 1361b Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB und §§ 1666 Abs. 1, 1666a Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB sowie das Gebot, Wertungswidersprüche zu vermeiden, sprechen ebenfalls für einen identischen Maßstab von "Kindeswohlgefährdung" und "Kindeswohlbeeinträchtigung" und zwar in dem bei § 1666 BGB zur Kindeswohlgefährdung entwickelten Sinne.[165] Insbesondere zur Wahrung der sachlichen Übereinstimmung des § 1361b Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB und der §§ 1666 Abs. 1, 1666a Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB ist dies erforderlich. Es ist nämlich in der Praxis häufig Zufall, ob nach einer Beratung der Ehegatten durch das Jugendamt ein Ehegatte einen Antrag auf Überlassung der Ehewohnung aus Kindeswohlgründen gemäß § 1361b Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB stellt oder ob er oder das Jugendamt nach § 50 Abs. 3 S. 1 SGB VIII das Gericht anrufen und dieses von Amts wegen ein Verbot der Wohnungsnutzung gemäß §§ 1666 Abs. 1, 1666a Abs. 1 S. 1, S. 2 BGB ausspricht. Der Schutz desselben Kindes darf hier nicht unterschiedlichen Maßstäben folgen. Sowohl der durch des GewSchG[166] eingefügte § 1361b Abs. 1 S. 2 BGB als auch der durch das Kinderrechteverbesserungsgesetz[167] eingefügte § 1666a Abs. 1 S. 1 BGB gehören zu den Maßnahmen im Rahmen des Aktionsplans der Bundesregierung zur Gewalt gegen Frauen und Kinder vom 1.2.1999.[168] Beide Vorschriften sollen gleichermaßen und in gleichem Umfange dem Schutz des Kindes vor Gewalt dienen.

 

Rz. 56

Der Maßstab für die "Beeinträchtigung des Kindeswohls" im Sinne von § 1361b Abs. 1 S. 2 BGB ist also aus der "Kindeswohlgefährdung" des § 1666 Abs. 1 BGB zu entwickeln.

[157] Larenz, Methodenlehre, S. 223 f.
[158] Dettenborn, S. 49, 55.
[159] Mnookin, FamRZ 1978, 1, 3 der den Maßstab als "eine Mystifikation" bezeichnet.
[160] ...

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