Rz. 51

Für die englische private limited company galt bis zum 31.12.2020 die europarechtliche Gründungstheorie. Grundlage dafür war die europäische Niederlassungsfreiheit. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gilt die Niederlassungsfreiheit nicht mehr.[55] Das Vereinigte Königreich ist ein Drittstaat. Seit dem 1.1.2021 besteht somit keine Grundlage mehr für die Geltung der (europarechtlichen) Gründungstheorie. Es gilt somit (wieder) die modifizierte Sitztheorie (wie für alle anderen Drittstaaten).

 

Rz. 52

Danach sind englische private limited companies mit Satzungssitz im Vereinigten Königreich und Verwaltungssitz in Deutschland (vorbehaltlich des Handels- und Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich, siehe dazu Rdn 66 ff.) seit dem 1.1.2021 nicht mehr als Kapitalgesellschaften anzuerkennen (auch nicht als eine Vorgesellschaft).

 

Rz. 53

Die Gesellschaft kann nicht als Kapitalgesellschaft behandelt werden, da die im öffentlichen Interesse bestehenden Gründungsvorschriften des deutschen Rechts nicht beachtet worden sind. Der Gesellschaft kann daher auch keine haftungsbeschränkende Wirkung beigemessen werden.

 

Rz. 54

Auf der Grundlage der (modifizierten) Sitztheorie ist die englische private limited company in Deutschland als eine Gesellschaft (ohne Haftungsbeschränkung) einzuordnen. Bei einer Mehrpersonen-Gesellschaft handelt es sich daher entweder um eine offene Handelsgesellschaft (bei entsprechender kaufmännischer Tätigkeit) oder um eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (bei nicht kaufmännischer Tätigkeit). Bei einer Einpersonen-Gesellschaft handelt es sich um einen eingetragenen Kaufmann (bei einem Handelsgewerbe) oder um ein (nicht kaufmännisches) Einzelunternehmen.

 

Rz. 55

Grundsätzlich wäre es denkbar, dass der BGH in solchen Fällen künftig die Gründungstheorie (auch unabhängig von europarechtlichen) Vorgaben anwendet. Dies ist allerdings nicht zu erwarten. Der BGH hat wiederholt erklärt, dass er an der (modifizierten) Sitztheorie festhält und im Übrigen die Entscheidung des Gesetzgebers abwartet. Der Gesetzgeber hat aber weder allgemein noch in Bezug auf die englischen private limited companies eine Regelung getroffen, so dass der BGH an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten dürfte.

 

Rz. 56

Die Sitztheorie gilt eingeschränkt für alle englischen private limited companies in Deutschland, und zwar unabhängig davon, wann diese errichtet worden sind.

Im Schrifttum ist teilweise vorgeschlagen worden, dass zumindest für private limited companies, die schon vor 2016 bestanden haben, ein gewisser Bestands- bzw. Vertrauensschutz gewährt werden müsste (u.a. unter Rückgriff auf den Rechtsgedanken des Art. 7 Abs. 2 EGBGB bzw. einen Grundsatz der intertemporalen Anerkennung bei Altgesellschaften).[56] Der deutsche[57] Gesetzgeber ist dem im Bereich des Gesellschaftsrechts[58] bewusst nicht gefolgt.[59] Die Fortgeltung der (europarechtlichen) Gründungstheorie für bereits früher bestehende Gesellschaften lässt sich daher auch nicht im Wege der Auslegung begründen.

 

Rz. 57

Der Übergang von der (europarechtlichen) Gründungstheorie zur (modifizierten) Sitztheorie ist auch nicht etwa verfassungswidrig,[60] da die Gesellschaften die Folgen ihrer Rechtsformwahl selbst verantworten müssen und zudem mehrere Jahre Zeit hatten, sich auf die neue Rechtslage einzustellen.[61]

 

Rz. 58

Der deutsche Gesetzgeber hat im Hinblick auf den Brexit u.a. das Umwandlungsgesetz geändert[62] und die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Verschmelzung erweitert (§§ 122a ff. und insbesondere § 122m UmwG). Danach konnten englische private limited companies im Rahmen einer grenzüberschreitenden Verschmelzung nicht nur auf eine deutsche Kapitalgesellschaft, sondern auch auf eine Personengesellschaft (§ 122b Abs. 1 Nr. 2 UmwG) übertragen werden.[63]

 

Rz. 59

Die Erwartungen des "Rettungsankers"[64] des deutschen Gesetzgebers für die englischen Scheinauslandsgesellschaften haben sich in der Praxis allerdings nicht erfüllt. Ein wesentlicher Grund dafür ist die unzureichende Mitwirkung der englischen Gerichte und Behörden, beispielsweise bei der Ausstellung von Verschmelzungsbescheinigungen. Hinzu kamen (prohibitiv) hohe Kosten und bürokratische Hemmnisse aller Art im Vereinigten Königreich. Bereits vor dem 31.12.2020 wurde die (rechtlich noch geltende) europäische Niederlassungsfreiheit im Vereinigten Königreich in vielen Fällen faktisch schon nicht mehr "gelebt"; der Brexit hat seine Schatten gewissermaßen bereits vorausgeworfen. Seit dem 1.1.2021 sind solche grenzüberschreitenden Verschmelzungen (trotz § 122m UmwG) auch rechtlich nicht mehr möglich, weil im Vereinigten Königreich die entsprechenden Regelungen aufgehoben worden sind.[65]

 

Rz. 60

Grenzüberschreitende Formwechsel und Spaltungen sind unter Beteiligung von Gesellschaften aus dem Vereinigten Königreich gleichfalls nicht möglich. Die Vorgaben der europäischen Mobilitätsrichtlinie[66] müssen erst bis zum 31.1.2023 in nationa...

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