Rz. 48

Greifen die Grundsätze der oben genannten EuGH-Rechtsprechung ein, steht dem Geschädigten ein Wahlrecht zu. Er kann den ausländischen VR in den meisten Fällen auch an dessen Firmensitz oder am Unfallort im Ausland verklagen. Es wird also im Einzelfall zu prüfen und abzuwägen sein, welche Vorgehensweise für den Geschädigten am günstigsten ist. Diese Erwägungen sind auch für den VR des Unfallgegners von entscheidender Bedeutung, der die eigenen Haftungsrisiken zu beurteilen und Rückstellungen zu bilden hat, die je nach betroffener Rechtsordnung anders ausfallen können.

 

Rz. 49

Unter Umständen ergibt sich so die Möglichkeit für den Geschädigten, über die Auswahl des Gerichtsstands im Rahmen des sog. forum shopping auch das sachlich anzuwendende Recht zu bestimmten. Zur Bestimmung des anzuwendenden Rechts gilt das IPR des Staates, in dem das angerufene Gericht liegt. Je nachdem, ob der Staat das HÜ unterzeichnet hat, gelangt dieses Abkommen oder sonst die Rom II-Verordnung zur Anwendung. Die sich hieraus ergebenden Möglichkeiten sind beispielhaft anhand zweier Unfallkonstellationen der Nachbarschaftsländer Polen und Deutschland darzulegen. Polen hat das HÜ unterzeichnet, Deutschland jedoch nicht. Dies kann zu erstaunlich anmutenden Ergebnissen führen:

 

Beispielsfall

Der in Polen lebende Student P fährt mit einem in Holland zugelassenen Reisebus nach Rotterdam. Der Beförderungsvertrag mit dem holländischen Busunternehmen wird in Polen abgeschlossen. Auf der Höhe von Berlin in Deutschland geschieht ein Unfall, bei dem der Bus wegen Übermüdung des Fahrers von der Straße abkommt und der P verletzt wird.

Erfolgt die Klage vor einem deutschen Gericht am Unfallort in Berlin gilt Rom II. Grundsätzlich wäre deutsches Recht nach Art. 4 Abs. 1 Rom II anzuwenden. Es greift aufgrund des Beförderungsvertrags, der polnischem Recht unterliegt, aber Art. 4 Abs. 3 Rom II und es gilt polnisches Recht. Erfolgt die Klage in Holland oder Polen, greift dagegen das HÜ ein. Grundsätzlich wäre danach auch wieder deutsches Recht als Recht des Unfallorts anzuwenden. Jedoch dürfte die Ausnahme des Art. 4a HÜ eingreifen, da der Bus in Holland, d.h. einem anderen Staat als dem Staat des Unfallortes, zugelassen ist und der verletzte Fahrgast ebenfalls nicht in dem Staat des Unfallorts wohnhaft ist. Nach Art. 4a HÜ kommt sowohl bei der Klage in Polen wie auch in Holland das holländische Recht zur Anwendung.

 

Rz. 50

Für den Geschädigten mag eine solche Unterscheidung geboten sein, wenn er durch die Wahl des angerufenen Gerichts zugleich das sachlich anzuwendende Recht bestimmt und dabei je nach einschlägigem Recht unterschiedliche Ergebnisse auftreten.

 

Beispielsfall

Der in Berlin wohnende deutsche Staatsbürger wird in Polen in einem Verkehrsunfall mit dem polnischen Staatsbürger P verwickelt, der als "Gastarbeiter" in Deutschland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Beide Fahrzeugführer beschuldigen sich gegenseitig, unachtsam einen Fahrstreifenwechsel verursacht zu haben. Zeugen gibt es keine und das konkrete Unfallgeschehen wird voraussichtlich nicht über Sachverständigengutachten aufgeklärt werden können.

Wenn D seine Ansprüche gerichtlich durchsetzen muss, stehen ihm Gerichtsstände in Polen am Unfallort bzw. Firmensitz des polnischen VR und in Deutschland an seinem Wohnsitz oder dem Wohnsitz des P zu. Bei letzterem Gerichtsstand könnte auch der polnische VR im Wege der Annexzuständigkeit nach Art. 8 EuGVVO in Anspruch genommen werden. Bei einer Klage in Polen kommt das HÜ zur Anwendung und es gilt polnisches Verkehrsrecht. Nach polnischem Recht besteht eine Haftung bei einem Unfall unter zwei Fahrzeugen nur dann, wenn der Gegenseite ein Verschulden nachgewiesen werden könnte. D würde mithin keinen Schadensersatz erhalten.

Klagt er dagegen in Deutschland, greift die Rom II-Verordnung ein und es ist aufgrund des gemeinsamen Aufenthaltsorts nach Art. 4 Abs. 2 Rom II deutsches Recht anzuwenden. Dies führt bei Annahme eines unaufklärbaren Unfallgeschehens dazu, dass D seine Ansprüche aufgrund der Gefährdungshaftung aus den §§ 7, 17 StVG zur Hälfte ersetzt erhält. Die Wahl des Gerichtsstandes entscheidet zugleich darüber, ob D Chancen hat, seinen Ersatzanspruch (wenigstens zur Hälfte) durchzusetzen.

 

Rz. 51

Für die beteiligten Parteien kann es daher auch interessant sein, jeweils die Ergebnisse nach beiden Rechtsordnungen gegenüberzustellen und eine Vereinbarung über das anzuwendende materielle Recht zu treffen, welches für die jeweilige Partei günstig ist. Für den Geschädigten besteht so die Möglichkeit des "law shopping".

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