Rz. 863

Mit der zweiten Variante des vorstehenden Musters soll nicht der Zugang an sich, sondern der Zugang "in den Machtbereich" des Arbeitnehmers fingiert werden. Wird eine Willenserklärung an einen von dem Arbeitnehmer bereits aufgegebenen Wohnsitz gerichtet, ist dort ein Zugang – jedenfalls vorbehaltlich der tatsächlichen Kenntnisnahme des Arbeitnehmers – nicht mehr möglich, da dieser nicht mehr zu dem Machtbereich des Erklärungsempfängers gehört und deshalb bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge mit einer Kenntnisnahme dort nicht mehr gerechnet werden kann. Der Zugang kann daher regelmäßig nur an dem aktuellen Wohnsitz des Arbeitnehmers bewirkt werden.

 

Rz. 864

Allerdings wird überwiegend angenommen, dass dem Arbeitnehmer eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht obliegt, dem Arbeitgeber einen Wohnsitzwechsel anzuzeigen.[1913] Unterlässt der Arbeitnehmer eine entsprechende Mitteilung und scheitert deshalb ein Zugang an der bisherigen Anschrift, so kann dies auch ohne entsprechende vertragliche Regelung als Zugangsvereitelung zu werten sein, so dass sich der Arbeitnehmer auf den nicht oder nicht rechtzeitig erfolgten Zugang nicht mehr berufen kann. Entsprechendes soll gelten, wenn das Namensschild an dem bisherigen Hausbriefkasten nicht entfernt wird.[1914] Vor diesem Hintergrund wird teilweise angenommen, dass die vorstehende Regelung ausnahmsweise zulässig sein soll, da die Zugangsfiktion in diesen Fällen nicht, wie es gem. § 307 Abs. 3 BGB für die Inhaltskontrolle erforderlich ist, von den gesetzlichen Bestimmungen abweiche, sondern lediglich die ohnehin geltende Rechtslage wiedergebe.[1915]

 

Rz. 865

Die Annahme einer Zugangsvereitelung ist allerdings an strenge Voraussetzungen geknüpft. So muss zwar ein Erklärungsempfänger, der den Zugang einer Kündigung verzögert, deren Zugang zu einem früheren Zeitpunkt gegen sich gelten lassen, wenn es ihm nach Treu und Glauben verwehrt ist, sich auf eine Verspätung des Zugangs zu berufen, für die er selbst durch sein Verhalten die alleinige Ursache gesetzt hat.[1916] Eine Zugangsvereitelung wird deshalb bspw. angenommen, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber bereits zu Beginn des Arbeitsverhältnisses eine unzutreffende Anschrift mitteilt und die fehlerhaften Angaben auch bei der Einreichung mehrerer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht berichtigt.[1917] Eine treuwidrige Vereitelung des Zugangs liegt jedoch nur dann vor, wenn das Zugangshindernis allein dem Empfänger zuzurechnen ist, der Erklärende mit einem solchen Hindernis nicht zu rechnen brauchte und er nach Kenntnis der zugangshindernden Umstände den Zugang unverzüglich erneut bewirkt.[1918] Auch wird eine Zugangsvereitelung häufig nur dann angenommen, wenn der Erklärungsempfänger damit rechnen musste, dass ihm eine entsprechende Erklärung übermittelt werden soll.[1919] Weiterhin ist zu bedenken, dass die Annahme einer Zugangsvereitelung stets der Einbettung in die Umstände des Einzelfalls bedarf. Insoweit ist bislang ungeklärt, wann der Arbeitnehmer einen Wohnsitzwechsel anzuzeigen hat[1920] und ob die unterlassene Anzeige auch dann als Zugangsvereitelung zu werten ist, wenn der Arbeitnehmer mit dem Zugang ­einer schriftlichen Erklärung nicht rechnen musste.[1921] Weiterhin ist eine ausreichende Anzeige des Wohnungswechsels auch ohne ausdrücklichen Hinweis an den Arbeitgeber in der Einreichung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gesehen worden, in der die neue Anschrift aufgeführt war.[1922] Diese Umstände lassen sich mit einer vertraglichen Klausel kaum erfassen. Es ist daher zumindest zweifelhaft, ob eine ­Fiktion entsprechend der zweiten Mustervariante, die für den Zugang einer Erklärung den Zugang an dem letzten dem Arbeitgeber bekannten Wohnsitz ausreichen lässt, tatsächlich nur die objektive Rechtslage wiedergibt, oder nicht vielmehr eine Verschärfung der gesetzlichen Anforderungen beinhaltet. Nur im erstgenannten Fall unterläge sie als rein deklaratorische Regelung nicht der gesetzlichen Inhaltskontrolle; anderenfalls wäre sie nach dem eindeutigen Wortlaut des § 308 Nr. 6 BGB als formularmäßige Vereinbarung einer Zugangsfiktion unwirksam.[1923]

 

Rz. 866

Ungeachtet dieser Streitfrage ist jedenfalls zu empfehlen, die in dem vorstehenden Muster ebenfalls enthaltene vertragliche Vereinbarung einer Verpflichtung des Arbeitnehmers, einen beabsichtigten oder erfolgten Wohnsitzwechsel unter Angabe der neuen Wohnanschrift unverzüglich anzuzeigen, aufzunehmen. Die Verletzung dieser Vertragspflicht kann im Einzelfall auch ohne die vertragliche Zugangsfiktion unter Hinweis auf § 242 BGB die Berufung auf eine Zugangsvereitelung durch den Arbeitnehmer erleichtern. Da der Regelungskomplex inhaltlich teilbar ist ("blue-pencil-test"), bleibt die Anzeigeverpflichtung auch dann wirksam, wenn die Zugangsfiktion als unwirksam erachtet werden sollte.

[1913] BAG 18.2.1977 – 2 AZR 770/75, AP Nr. 10 zu § 130 BGB; LAG Düsseldorf 15.8.2017 – 3 Sa 348/17, juris; Seel, oeAT 2018, 84.

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