Rz. 412

Abzugrenzen von der Frage der Arbeitsunfähigkeit am konkreten Arbeitsplatz ist nach teilweise vertretener Auffassung die sogenannte Teilarbeitsunfähigkeit. Diese soll vorliegen, wenn der Arbeitnehmer trotz Erkrankung die arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeiten – teilweise noch erbringen kann, wenn auch in geringerem zeitlichen Umfang oder unter Herausnahme einzelner Arbeitsschritte, die wegen der Erkrankung punktuell nicht ausgeführt werden können.[954]

 

Rz. 413

Das BAG erkennt eine solche "Teilarbeitsunfähigkeit" im Rahmen des EFZG jedoch nicht an.[955] Es gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip: der Arbeitnehmer ist entweder voll arbeitsfähig oder voll arbeitsunfähig, niemals teilweise arbeitsfähig. Dies hat zur Folge, dass auch eine nur reduzierte Arbeitsfähigkeit ("Teilarbeitsunfähigkeit") entgeltfortzahlungsrechtlich zur vollen Arbeitsunfähigkeit führt. Auch der "nur" vermindert Arbeitsfähige ist im Sinne der einschlägigen entgeltfortzahlungsrechtlichen Regelungen vollständig arbeitsunfähig, eben weil er die konkrete vertraglich geschuldete Arbeitsleistung nicht voll erfüllen kann. Der Arbeitgeber kann auch nicht eine Teiltätigkeit verlangen und umgekehrt einen Teil der Entgeltfortzahlung verweigern.[956] Jedoch soll eine abweichende Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien im Rahmen der geltenden Gesetze und Tarifverträge möglich sein.[957] Zu beachten ist insoweit aber, dass hierunter nach Ansicht des BAG nicht die Fälle fallen sollen, in denen der Arbeitnehmer eine volle Arbeitsleistung erbringen kann und lediglich gehindert ist, der gesamten Bandbreite der arbeitsvertraglich an sich möglichen Leistungsbestimmungen gerecht zu werden.[958]

 

Rz. 414

An diesem Alles-oder-Nichts-Prinzip ändern auch die Regelungen zur stufenweisen Wiedereingliederung (§ 74 SGB V) nichts. Danach soll der Arzt, wenn arbeitsunfähige Versicherte nach ärztlicher Feststellung ihre bisherige Tätigkeit teilweise verrichten können und durch eine stufenweise Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit voraussichtlich besser wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden können, auf der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit Art und Umfang der (noch oder wieder) möglichen Tätigkeit angeben. Während einer stufenweisen Wiedereingliederung bleibt der Arbeitnehmer voll arbeitsunfähig, und wird nicht arbeitsfähig, auch nicht teilweise.[959] Während der stufenweisen Wiedereingliederung liegt kein Arbeitsverhältnis vor. Es handelt sich vielmehr um ein Rechtsverhältnis eigener Art, das durch freie Vereinbarung zwischen den Arbeitsvertragsparteien zustande kommt (§ 305 BGB). Die gegenseitigen Hauptleistungspflichten (Arbeitsentgelt; Leistung) ruhen; es bestehen lediglich Schutz- und Nebenpflichten.[960] Die Krankenkasse bleibt weiterhin zur Zahlung des vollen Krankengeldes verpflichtet.

[954] MüKo-BGB/Müller-Glöge, § 616 BGB Rn 9; Stückmann, DB 1998, 1662.
[955] BAG 29.1.1992 – 5 AZR 37/91, NZA 1992, 643; BAG 9.4.2014 – 10 AZR 637/13, NZA 2014, 719; BAG 13.6.2006 – 9 AZR 229/05, NZA 2007, 91; BAG 25.10.1973 – 5 AZR 141/73, DB 1974, 342; auch: LAG Berlin 27.6.1990 – 13 Sa 40/90, BeckRS 1990 30455523; LAG Rheinland Pfalz 4.11.1991 – 7 Sa 421/91 NZA 1992, 169; ErfK/Reinhard, § 3 EFZG Rn 12; Staudinger/Oetker, § 616 BGB Rn 233.
[956] ErfK/Reinhard, § 3 EFZG Rn 12.
[957] LAG Berlin 27.6.1990 – 13 Sa 40/90, BeckRS 1990 30455523; ErfK/Reinhard, § 3 EFZG Rn 12.
[958] BAG 9.4.2014 – 10 AZR 637/13, NZA 2014, 719 hins. der Nachtdienstuntauglichkeit einer Krankenschwester: Der Arbeitgeber müsse dann im Rahmen des § 106 GewO nach Möglichkeit berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer aus Gründen seiner Gesundheit nicht (mehr) in der Lage sei, alle an sich geschuldeten Tätigkeiten vollumfänglich auszuführen. Die vorgenannte Entscheidung ist allerdings in erster Linie zum Beschäftigungsanspruch und zum Annahmeverzug und nicht unmittelbar zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ergangen.
[960] LAG Berlin 27.6.1990 – 13 Sa 40/90, BeckRS 1990 30455523; v. Hoyningen-Huene, NZA 1992, 49, 55.

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