Rz. 295

Das Berufungsgericht ist grundsätzlich an die vom Gericht des ersten Rechtszugs festgestellten Tatsachen gebunden (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Insbesondere das Aufzeigen von Verfahrensfehlern im Zusammenhang mit den getroffenen Feststellungen kann zur Verdeutlichung von Zweifeln an den getroffenen Feststellungen genügen.[450] So sind das Übergehen von Sachvortrag und Beweisangeboten geeignete Beanstandungen.

 

Rz. 296

 

Hinweis

Ein Verfahrensfehler ist jedoch keine Voraussetzung für einen Angriff auf die Bindungswirkung nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen sind für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, soweit konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen. Solche Zweifel können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertungen ergeben.[451]

 

Rz. 297

Die Berufungsbegründung muss deutlich werden lassen, welche entscheidungserheblichen Feststellungen aus welchen Gründen angegriffen werden. Dabei ist keine formalistische Betrachtungsweise angezeigt. Wird in der Berufungsbegründung gerügt, das erstinstanzliche Gericht habe Parteivorbringen oder Beweisantritte übergangen, so ist eine genaue Bezeichnung unter Angabe der Fundstelle in den Schriftsätzen der Vorinstanz nicht erforderlich.[452]

 

Rz. 298

 

Beispiel

Weist der gerichtliche Sachverständige in einem Arzthaftungsprozess erstinstanzlich in seinem Gutachten darauf hin, dass er von einer guten Lage des oberen Schraubenpaares eines Beckenkamminterponats vor der durchgeführten Revisionsoperation ausgehe, ihm im Zweifel aber eine entsprechende Röntgenaufnahme zur Einsichtnahme vorgelegt werden müsse, so hat das Berufungsgericht dem Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung zu der fehlenden Vorlage und Berücksichtigung dieser Röntgenaufnahme, aus der sich eine Schraubenfehllage ergeben soll, nachzugehen.[453]

 

Rz. 299

 

Formulierungsbeispiel

Das angefochtene Urteil ist gem. § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO fehlerhaft. Denn das Landgericht ist in der angefochtenen Entscheidung zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger zur Abnahme nicht schlüssig vorgetragen hat. Der Kläger hat aber bereits auf Seite 5 der Klagebegründung zum Nachweis der Abnahme ein Abnahmeprotokoll vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass der Beklagte die vom Kläger erbrachte Werkleistung beanstandungslos entgegengenommen hat; das Abnahmeprotokoll ist vom Beklagten auch unterschrieben worden, was das Landgericht übersehen hat.

Beweis: Vorlage des Abnahmeprotokolls vom 10.7.2003 als Anlage.

[452] Vgl. BGH NJW 2004, 1876, 1877.
[453] BGH BeckRS 2016, 16339.

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