Rz. 290

Zielt die Berufung auf erneute, von der angegriffenen Entscheidung abweichende tatsächliche Feststellungen des Berufungsgerichts ab, muss die Berufung, die den festgestellten Sachverhalt angreifen will, eine Begründung dahin enthalten, warum die Bindung an die festgestellten Tatsachen ausnahmsweise nicht bestehen soll (§ 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO).[440] Der Berufungsangriff bezieht sich im Kern auf die Erhebung von Zweifeln gegen die Vollständigkeit und Richtigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), worunter insbesondere die Vernachlässigung von Sachvortrag und Beweisangeboten sowie die fehlerhafte Beweiswürdigung fallen.

 

Rz. 291

 

Hinweis

Die Berufungsangriffe nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 und 3 ZPO können sich in Randbereichen überschneiden, weil mit der Rüge der Rechtsverletzung gem. § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO auch vorgebracht werden kann, dass Tatsachenfeststellungen unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften unrichtig oder unvollständig erfolgt sind, was zugleich einen erheblichen Berufungsangriff im Sinne der Beweisberufung gem. § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO darstellen kann.

 

Rz. 292

Nach dem Gesetzeswortlaut kann eine Wiederholung oder Ergänzung der Beweisaufnahme nur erreicht werden, wenn "konkrete Anhaltspunkte" Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellung im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. "Konkreter Anhaltspunkt" in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen.[441] Konkrete Anhaltspunkte können sich ergeben aus

gerichtsbekannten Tatsachen oder
dem Vortrag der Parteien oder
dem angefochtenen Urteil selbst oder
Fehlern, die dem Erstgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind.[442]
 

Rz. 293

Sind derartige konkrete Anhaltspunkte dargetan, reicht die "Möglichkeit einer unterschiedlichen Wertung" für die erneute Beweisaufnahme aus.[443] Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung – soweit möglich[444] – verpflichtet.[445]

 

Rz. 294

 

Hinweis

Weicht das Berufungsgericht in seiner Würdigung von der des Erstgerichts ab, muss es sich hierfür einen eigenen Eindruck verschaffen, also die Partei, den Zeugen bzw. den Sachverständigen selbst hören bzw. ein klarstellendes ergänzendes schriftliches Gutachten einholen. Interpretiert das Berufungsgericht die Aussage eines in erster Instanz vernommenen Zeugen anders als die Vorinstanz, ohne den Zeugen erneut zu vernehmen, verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei.[446] Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann aber dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen.[447] Entsprechendes gilt für die (formlose) Anhörung bzw. (förmliche) Vernehmung einer Partei.[448] Auch wenn ein Sachverständiger im Anschluss an sein schriftlich erstattetes Gutachten vom Landgericht mündlich gehört und daraufhin in einer bestimmten Weise verstanden wird, darf das Berufungsgericht von diesem Verständnis nicht ohne eigene Anhörung des Sachverständigen abweichen.[449]

[441] BGH NJW 2004, 2828, 2829.
[444] Zum Versterben eines Zeugen nach der erstinstanzlichen Vernehmung: BGH MDR 2016, 1404.
[447] BGH NJW-RR 2017, 1101; BGH NJW-RR 2009, 1291.
[449] BGH VersR 2011, 1450.

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