Rz. 32

Diese h.M. wird in der Literatur zu Recht zunehmend kritisiert und abgelehnt.[62] Auch Vertretern der Ablehnung der isolierten Anfechtungsmöglichkeit erscheint es erwägenswert und akzeptanzfördernd, dass der Gesetzgeber eine isolierte Anfechtung einer Gutachtenanforderung zulässt.[63] Der 52. Deutsche Verkehrsgerichtstag 2014 in Goslar hat im Arbeitskreis V in seiner Empfehlung beschlossen, dass bereits die Anordnung, ein Fahreignungsgutachten beizubringen, einer unmittelbaren verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen ist.[64] Auch das VG Neustadt,[65] das die selbstständige Angreifbarkeit der Gutachtenanordnung noch einmal ausdrücklich ablehnt, anerkennt in seiner Entscheidung vom 20.1.2016 eine Forderung an den Gesetzgeber, soweit in der Literatur darauf verwiesen wird, dass mit Blick auf die Eingriffsintensität der Maßnahme und die damit verbundenen schwerwiegenden Folgen mit Grundrechtsrelevanz, eine selbstständige gerichtliche Überprüfbarkeit gesetzlich gewährleistet sein müsse.[66] Gleiches gelte für den Verweis auf die inakzeptable Verteilung des Risikos einer späteren gerichtlichen Überprüfung,[67] die höhere Akzeptanz einer Vorabüberprüfbarkeit der Gutachtensanordnung[68] und die größere Bürgerfreundlichkeit eines solchen Vorgehens.[69]

 

Rz. 33

Kein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, kann richterlicher Nachprüfung entzogen werden.[70] Bei der staatlichen Verpflichtung zur Justizgewährung gibt die Verfassung quasi durch einen verfassungsrechtlichen Ausgestaltungsauftrag u.a. mit Art. 19 Abs. 4 GG Zielrichtung und Grundzüge vor: Die Verfahrensordnung ist so auszugestalten, dass effektiver Rechtsschutz für den einzelnen Rechtsuchenden besteht.[71]

 

Rz. 34

Die fehlende Justiziabilität der Begutachtungsanforderung durch Primärrechtsschutz gegen die Anordnung lässt sich zunächst nicht alleine am Begriff des Verwaltungsakts aufmachen.

Zum einen erschöpft sich die Bedeutung der Rechtsfigur "Verwaltungsakt" nicht in juristisch-dogmatischer Begriffsdiskussion. Der Verwaltungsakt dient alles anderem als einem puren Selbstzweck. Er ist eine an Grundrechten und Verfahrensrechten orientierte Wertschöpfung, die auch und gerade dem effektiven Rechtsschutz Rechnung tragen will und soll (Art. 19 Abs. 4 GG).[72]

Zum anderen ist der verwaltungsrechtliche Rechtsschutz nicht nur bei Vorliegen eines Verwaltungsaktes gegeben. Auch sog. sonstiges Verwaltungshandeln ist mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG einer Überprüfung zugänglich.[73]

Schließlich lässt sich mit Blick auf den auch vom BVerfG seit langem anerkannten Eingriffscharakter der Gutachtenanforderung[74] durchaus "Regelungscharakter" der behördlichen Anordnung i.S.d. Verwaltungsaktsbegriffs erkennen.[75]

Bei der genauso gelagerten Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Dienstfähigkeit eines Beamten[76] wird in der Rechtsprechung teilweise ein Verwaltungsakt angenommen. VGH Baden-Württemberg vom 3.2.2005[77] und OVG Nordrhein-Westfalen vom 8.2.2008[78] sehen die Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung wegen des mit ihr verbundenen Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des Beamten und wegen der im Fall der Weigerung möglichen Disziplinarmaßnahmen als Verwaltungsakt an.[79] Die a.A., die einen Verwaltungsakt ablehnt,[80] gewährt aber wegen des Persönlichkeitseingriffs gleichfalls Rechtsschutz und zwar über § 123 VwGO.

 

Rz. 35

Die von der herrschenden Rechtsprechung getragene Rechtsauffassung entspricht nicht dem auch vom BVerfG angenommenen Eingriffscharakter der Gutachtenanforderung,[81] zumal danach bereits die Ankündigung der aus der Weigerung zu ziehenden Rechtsfolge der Fahrerlaubnisentziehung Eingriffscharakter besitzt.[82]

Die von der Behörde geforderten Gutachten setzen nämlich die Erhebung höchstpersönlicher Befunde, die unter den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts fallen, voraus. Das gilt nicht nur für den medizinischen, sondern in gesteigertem Maße auch für den psychologischen Teil der Untersuchung, deren Befunde dem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung zugehören. Sie sind deswegen stärker von Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt.
Die bei diesem Teil der Untersuchung ermittelten Befunde zum Charakter des Betroffenen berühren seine Selbstachtung ebenso wie sein gesellschaftliches Ansehen.
Der Betroffene muss die Einzelheiten in einer verhörartigen Situation offenlegen.
Hinzu kommt, dass die Beurteilung des Charakters im Wesentlichen auf einer Auswertung von Explorationsgesprächen beruht, einer Methode, die nicht die Stringenz von Laboruntersuchungen aufweist und Unwägbarkeiten nicht ausschließt.
Die gesamte Untersuchung bedeutet eine erhebliche Belastung für den Betroffenen.[83]
 

Rz. 36

Der von der herrschenden Rechtsprechung nicht gewährte Primärrechtsschutz gegen die Gutachtenanordnung verträgt sich nicht mit dem bereits durch die Gesetzesänderung zum 1.1.1999 geschaffenen Rechtsschutz gegen die Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar. Dort sind nämlich –...

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