Rz. 102

Nach dem Wortlaut ist die Gehörsrüge nach § 321a Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich zulässig bei allen Entscheidungen der Amtsgerichte und der Landgerichte, gegen die ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf nicht gegeben ist (§ 321a Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Bei Endurteilen darf die Rechtsmittelbeschwer 600 EUR nicht übersteigen und das Gericht darf die Berufung nicht zugelassen haben. Die Beschränkung des § 321a ZPO a.F. auf Urteile, die mit der Berufung nicht angegriffen werden konnten, besteht daher nicht mehr. Die Gehörsrüge ist also nunmehr zulässig gegen alle Entscheidungen, also sowohl Urteile als auch Beschlüsse.[70] Es ist auch unerheblich, in welcher Verfahrensart und in welcher Instanz[71] eine gerichtliche Entscheidung gefällt wurde.[72] Die Gehörsrüge ist daher z.B. auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anwendbar.[73]

 

Rz. 103

Entschieden ist mit dieser Gesetzesänderung auch die umstrittene Frage, ob gegen einen die Berufung zurückweisenden Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO eine Gehörsrüge eingelegt werden kann. Dies ist nach dem erweiterten Anwendungsbereich ohne Weiteres der Fall.[74]

 

Rz. 104

Nach dem Wortlaut ist nunmehr eine Gehörsrüge nur ausgeschlossen, wenn es sich um Zwischenentscheidungen handelt, denen eine Endentscheidung folgt. Trotz des relativ klaren Wortlautes entzündete sich ein Streit darüber, wie weit diese Einschränkung gelten soll. Dabei ging es vorrangig zunächst um die Zulässigkeit einer Anhörungsrüge bei Beschlüssen über eine Richterablehnung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich unter Hinweis auf die bereits erwähnte Plenarentscheidung vom 30.4.2003 für die Zulässigkeit der Anhörungsrüge in solchen Fällen ausgesprochen, wenn – wie bei einem Verfahren über eine Richterablehnung – ein selbstständiges Zwischenverfahren vorliegt, das durch den Beschluss über den Antrag endet, sodass insoweit eine Endentscheidung vorliegt. Daher wird man bei verfassungskonformer Auslegung eine Anhörungsrüge gegen solche Entscheidungen zulassen müssen, die im Hinblick auf mögliche Gehörsverletzungen im weiteren fachgerichtlichen Verfahren nicht mehr überprüft oder korrigiert werden können. Schließlich ist nunmehr in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch bei einer Entscheidung über eine Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 ZPO eine Gehörsrüge zulässig ist.[75]

 

Rz. 105

Es stellt sich allerdings die Frage, ob der gesetzgeberische Zweck der Entlastung des Bundesverfassungsgerichts durch die Einführung der Gehörsrüge erreicht werden kann. Durch die Gehörsrüge ist nur ein Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde vorgeschaltet. Dieser Rechtsbehelf war jedoch bei der Gesetzeslage vor Einführung der Gehörsrüge mit der außerordentlichen Berufung bzw. der außerordentlichen Beschwerde und der Gegenvorstellung ebenfalls gegeben. Allerdings ist es für den Anwalt erheblich einfacher, eine Gehörsrüge nach § 321a ZPO zu erheben, als eine Verfassungsbeschwerde einzureichen, sodass davon auszugehen ist, dass die Zahl der Gehörsrügen die Zahl der Verfassungsbeschwerden in gleichartigen Fällen bei einem Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör weit übersteigen dürfte.

 

Rz. 106

Nach § 321a ZPO ist eine Korrektur der Entscheidung des Gerichts möglich. Die Gehörsrüge stellt daher im Bereich von Urteilen eine Ausnahme zu dem in § 318 ZPO aufgeführten Grundsatz dar, nach dem das Gericht an die eigene Entscheidung gebunden ist.

 

Rz. 107

Weitere Ausnahmen zu dem in § 318 ZPO normierten Grundsatz ergeben sich aus §§ 319, 320 und 321 ZPO.

 

Rz. 108

 

Tipp

Es ist von Ihnen zunächst zu überprüfen, ob nicht bereits nach §§ 319321 ZPO eine Änderung der Entscheidung erreicht werden kann. Sollte dies der Fall sein, fehlt der Gehörsrüge bereits das Rechtsschutzbedürfnis.[76] Zudem dürften die §§ 319321 ZPO ein "anderer Rechtsbehelf" i.S.d. § 321a Abs. 1 Nr. 1 ZPO sein.

 

Rz. 109

Da es bei § 320 ZPO um die Berichtigung des Tatbestandes geht und gerade nicht um eine Änderung des Tenors selbst, wie dies bei § 321a ZPO das Ziel ist, sind Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen diesen Vorschriften nicht zu erwarten.

 

Rz. 110

Der Antrag nach § 321 ZPO führt zwar bei Erfolg zu einer Änderung des Tenors. Allerdings wird der Tenor nur ergänzt. Der Tenor des Ausgangsurteils bleibt jedenfalls erhalten.

 

Rz. 111

Es kann jedoch für den Anwalt schwer zu erkennen sein, ob eine offenbare Unrichtigkeit i.S.d. § 319 ZPO oder ob ein Fall des § 321a ZPO vorliegt. Während bei § 319 ZPO die im Urteil abgegebene Erklärung des richterlichen Willens von der bei der Urteilsfällung vorhandenen Willensbildung abweicht,[77] stimmen im Anwendungsbereich des § 321a ZPO der tatsächliche und der erklärte Wille des Gerichts überein.

 

Rz. 112

 

Tipp

Sollten Sie nicht erkennen können, ob ein Fall des § 319 ZPO oder ein Fall des § 321a ZPO vorliegt, sollten Sie einen Berichtigungsantrag nach § 319 ZPO mit einer hilfsweise eingelegten Gehörsrüge verbinden.[78]

 

Rz. 113

Ob eine Berufung zulässig ist, ist für jede Partei gesondert zu prüfen.[79] Sollte daher nur für eine d...

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