Rz. 222

In der Praxis ist es immer wieder zu beobachten, dass Anwälte lediglich das Fazit des Gutachters zur Kenntnis nehmen und dies zur Grundlage der weiteren Regulierung und ihrer Beurteilung machen. Dies ist zu kurz gegriffen. Es ist selbstverständlich die Pflicht des Anwalts, der Personenschäden bearbeitet, das Gutachten vollständig zu lesen und vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Nur so ist gewährleistet, dass auch tatsächlich alle von dem Mandanten beklagten Unfallfolgen überhaupt untersucht und berücksichtigt wurden. Nicht selten ist es so, dass ein Versicherer hier entweder einen eingeschränkten Auftrag erteilt oder der Arzt den Auftrag nur eingeschränkt versteht. Wird beispielsweise der Arm und das Bein verletzt, kommt es vor, dass nur eines der beiden Körperteile untersucht wird; darüber hinaus muss der Anwalt prüfen, ob die Gutachten insgesamt vollständig sind. Erwähnt beispielsweise der Gutachter in seinen Ausführungen eine Nervenschädigung, ist die Einholung eines neurologischen Zusatzgutachtens unabdingbar. Wird eine Bruchverletzung beurteilt, muss zwingend ein radiologisches Zusatzgutachten eingeholt werden. Nur dann, wenn die Gutachten vollständig sind, können die Unfallfolgen auch tatsächlich vollständig beurteilt und in die Argumentation gegenüber dem Versicherer einbezogen werden. Hier lauert ein immenses Haftungsrisiko.

 

Rz. 223

Der wichtigste Teil des Gutachtens findet sich bei chirurgischen Gutachten am Ende. Es handelt sich um das sogenannte Messblatt für Gliedmaßen. Man sollte immer darauf bestehen, dass dieses dem Gutachten beigefügt wird. Aus diesem Messblatt kann man ersehen, wie gravierend die Einschränkungen beim Mandanten tatsächlich sind.

 

Rz. 224

Die Messblätter sind weitestgehend selbsterklärend. Die Bewegungseinschränkungen werden im Regelfall nach der sog. Neutral-Null-Methode ermittelt. Was damit gemeint ist, zeigen die Bilder auf der rechten Seite des Messblatts. Es wird jeweils die Beweglichkeit nach einer Seite, zum Ruhezustand sowie nach der anderen Seite angegeben.

Entscheidend bei den Messblättern ist, dass sowohl von den oberen als auch von den unteren Extremitäten jeweils zwei vorhanden sind. Entscheidend ist daher nicht alleine der Vergleich mit den auf den rechten Schaubildern angegebenen Normwerten, sondern vor allem der sog. Seitenvergleich. Das heißt, man muss im konkreten Fall berücksichtigen, welche Verletzungen auf jeder Seite vorliegen.

 

Rz. 225

In diesem Messblatt lag auf der linken Seite eine handgelenksnahe Fraktur des Radius (der Elle) vor. Am rechten Arm lagen schwere Verbrennungen bis zum 3. Grad vor. Diese erfassten den gesamten Arm. Bei der Messung der Beweglichkeit der Schultergelenke fällt auf, dass diese rechts leicht eingeschränkt sind. Man kann davon ausgehen, dass bei einer Abweichung bis etwa 20 % (hier 140–0-20 statt 155–0-20) von einer geringgradigen Beeinträchtigung geredet wird. Bei einer höheren Beeinträchtigung spricht man auch von einer hochgradigen Beeinträchtigung. Die Begriffe "geringgradig" und "hochgradig" kann man hier wörtlich verstehen.

Das Messblatt zeigt auch, dass insbesondere bei Gliedmaßen Verbrennungsverletzungen mit nachfolgenden Vernarbungen zu zumindest geringgradigen, teilweise aber auch zu erheblichen Beeinträchtigungen der Beweglichkeit führen können.

Auf der linken Seite liegt eine handgelenksnahe Ellenfraktur vor. Daher ist auf der linken Seite die Beweglichkeit einerseits bei der Unterarmdrehung leicht eingeschränkt, andererseits auch die Beweglichkeit der Handgelenke. Vor allem fällt auf, dass die Fingerkuppen auf der linken Seite nicht mehr zusammengeführt werden können.

 

Praxistipp

Insbesondere aus Abständen zwischen Fingerkuppen und aus höhergradigen Beeinträchtigungen ergeben sich nicht nur höhere Schmerzensgelder, sondern vor allem auch größere Beeinträchtigungen bei der Haushaltsführung. Je nach Beruf muss auch geschaut werden, ob hier berufliche Einschränkungen vorhanden sind.

 

Rz. 226

Diesem Messblatt lag eine Amputation des linken Unterschenkels zugrunde. Aufgrund der Amputation sind hier die Maße nur bis zum Kniegelenk eingefügt. Auf der anderen Seite ist eine Stumpflänge angegeben. Es zeigt sich, dass die Beweglichkeit der Hüftgelenke nahezu seitengleich ist. Auffallend ist, dass das Kniegelenk sich nur zum Teil bewegen lässt. Dies ist insbesondere von Bedeutung für die Frage einer Prothesenversorgung und für die Frage, wie weit das Bein mit entsprechender Prothese anschließend beweglich sein wird. Was die Länge des Stumpfes angeht, so hängt hiervon entscheidend auch wieder die Prothesenversorgung ab.

 

Hinweis

Insbesondere bei Amputationen ist darauf abzustellen, wie viel von der Gliedmaße noch erhalten geblieben ist. Darüber hinaus ist bei einer Amputation immer die Stumpfversorgung entscheidend. Nur bei einer optimalen Stumpfversorgung kann auch eine Prothesenversorgung optimal erfolgen.

 

Rz. 227

Bei der Prothesenversorgung kommt es jeweils auf den Einzelfall an. Hier ist immer ein Spezialist hinzuzuziehen, der s...

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