Rz. 130

Im Rahmen der Inobhutnahme muss das Jugendamt grundsätzlich versuchen, auf das Kind oder den Jugendlichen mit sozialpädagogischen Mitteln einzuwirken.[444] Allein unter den in § 42 Abs. 5 SGB VIII genannten engen Voraussetzungen kommen ausnahmsweise freiheitsentziehende Maßnahmen in Betracht,[445] da jeweils nicht der Aspekt der Gefahrenabwehr im Vordergrund steht, sondern allein das Kindeswohl.[446] Notwendige Voraussetzung für eine freiheitsentziehende Maßnahme[447] ist daher, dass diese zur Abwehr von Gefahr für Leib[448] oder Leben des Kindes/Jugendlichen selbst bzw. eines Dritten geeignet und erforderlich ist. Die Gefahren müssen sich bereits konkretisiert haben und in allernächster Zeit zu befürchten sein.[449] Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu wahren, d.h. es muss stets geprüft werden, ob statt einer Freiheitsentziehung möglicherweise Freiheitsbeschränkungen ausreichen,[450] wobei das Jugendamt zudem in der Verpflichtung steht, die Alternativlosigkeit seiner freiheitsentziehenden Maßnahmen zu begründen. Während das Einverständnis des Personensorgeberechtigten – folgend aus § 1631b BGB – unbeachtlich ist, kann eine Maßnahme sehr wohl mit dem Einverständnis eines ausreichend einsichtsfähigen Kindes oder Jugendlichen ihren Zwangscharakter verlieren.[451] Dessen unbeschadet bedürfen freiheitsentziehende Maßnahmen zwingend der familiengerichtlichen Genehmigung nach § 1631b BGB, unabhängig davon, ob ein Einverständnis des Kindes oder Jugendlichen vorliegt.[452] Ob von einer freiheitsentziehenden Maßnahme in diesem Sinn auch auszugehen ist, wenn es sich um eine halboffene Unterbringung handelt, ist in der Rechtsprechung umstritten, aber wohl zu bejahen, da letztlich dem Betroffenen die eigene Entscheidungskompetenz genommen wird, einen bestimmten Ort dauerhaft aufzusuchen oder zu verlassen.[453] Von der Genehmigungspflicht werden lediglich unterbringungsähnliche Maßnahmen, wie etwa die Körperfixierung, nicht erfasst.[454]

 

Rz. 131

Kann die gerichtliche Entscheidung wegen Gefahr im Verzug nicht im Vorfeld eingeholt werden, so ist dies unverzüglich nachzuholen, und zwar spätestens mit Ablauf des Tages, der dem Tag der Freiheitsentziehung folgt (§ 42 Abs. 5, S. 2 SGB VIII),[455] ansonsten ist die Freiheitsentziehung aufzuheben.[456] In dem einzuleitenden gerichtlichen Verfahren ist das Jugendamt gem. § 162 FamFG anzuhören und auf seinen Antrag am Verfahren zu beteiligen. Im Rahmen der in § 50 SGB VIII vorgesehenen Mitwirkung des Jugendamtes sind von diesem neben den Gründen für die Inobhutnahme selbst auch die Erforderlichkeit der vorgenommenen Freiheitsentziehung darzulegen. Es zeigt sich an dieser Stelle erneut die Wichtigkeit konsequenter Dokumentation der Krisenhilfe des Jugendamtes.

 

Rz. 132

Teilweise wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass im Fall einer nicht fristgerechten Entscheidung des Familiengerichts gleichwohl die Freiheitsentziehung fortgesetzt werden könne, da im Rahmen einer Güterabwägung das Leben des Kindes oder Jugendlichen schwerer wiege als eine Freiheitsentziehung.[457] Dem kann nicht zugestimmt werden. Hier darf nicht außer Betracht bleiben, dass sich der Gesetzgeber bei der vorgegebenen Frist des § 42 Abs. 5 S. 2 SGB VIII ganz bewusst an dem hohen Maßstab des Art. 104 GG orientiert hat, mit Blick auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift sowie unter Berücksichtigung, dass das Jugendamt in der Regel auch nicht im Einverständnis mit den Eltern handelt.[458] Jede abweichende und Ausnahmen zulassende Handhabung birgt daher das Risiko, dass die gerade im Interesse des Kindes oder Jugendlichen vorgegebene Frist ausgehebelt wird.

Ist der Sorgeberechtigte mit der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht einverstanden, so ist neben der Genehmigung nach § 1631b BGB auch über die Zustimmungsersetzung nach § 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB zu entscheiden bzw. über Einschränkungen der elterlichen Sorge für den Fall, dass auch der Inobhutnahme als solcher unverändert widersprochen wird.[459] Für das gerichtliche Verfahren gelten dabei die §§ 167 i.V.m. 312 ff. FamFG (siehe dazu § 1 Rdn 92 ff.).

 

Rz. 133

Bedarf es im Zusammenhang mit der Inobhutnahme und insbesondere der Vornahme freiheitsentziehender Maßnahmen der Anwendung unmittelbaren Zwangs, so sind hierfür allein die Polizeibehörden legitimiert.[460] Allerdings greift hier der Grundsatz der Subsidiarität: Die Polizei ist zur Vollzugshilfe nur verpflichtet, wenn das Jugendamt nicht selbst über die hierzu erforderlichen Dienstkräfte verfügt.[461]

[444] BT-Drucks 11/5948, S. 80.
[445] Hoffmann/Trenczek, Freiheitsentziehende Unterbringung "minderjähriger" Menschen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, JAmt 2011, 177; Beermann, Zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche freiheitsentziehende Unterbringung Minderjähriger, FPR 2011, 535.
[446] Trenczek, in Münder/Wiesner/Meysen, Handbuch KJHR, Kap. 3.9 Rn 32.
[447] Siehe hierzu umfassend die Monographie von Vogel, Die familiengerichtliche Genehmigung der Unterbringung mit Frei...

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