Rz. 122

Während der Inobhutnahme ist das Jugendamt zunächst berechtigt, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind (§ 42 Abs. 2 S. 4 SGB VIII). Welche konkreten Maßnahmen hiervon erfasst sind, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten,[413] wobei nicht außer Betracht bleiben darf, dass sich aus § 42 SGB VIII – zumindest bis zu einer familiengerichtlichen Entscheidung – nur eine Notkompetenz ableitet.[414] In diesem Sinn hat auch das BVerfG in einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 hervorgehoben, dass es insbesondere in den Fällen des erklärten Widerspruchs gegen eine Inobhutnahme allein Sache des Familiengerichts ist, Sorgerechtsentscheidungen zu treffen. Die Inobhutnahme durch das Jugendamt steht dem nach wie vor existenten Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern nicht entgegen.[415] Bis zu einer entsprechenden Entscheidung des Familiengerichts ist das Jugendamt damit nur zur Vornahme vorläufiger Maßnahmen berechtigt.[416] Wurde das Jugendamt bereits zu einem früheren Zeitpunkt als Ergänzungspfleger mit der Befugnis zur Aufenthaltsbestimmung bestellt und soll die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie erfolgen, so kann der Herausgabeanspruch nicht mit Mitteln der Verwaltungsvollstreckung durchgesetzt werden. Vielmehr muss das Jugendamt als Personensorgeberechtigter einen Herausgabetitel nach § 1632 Abs. 1 und 3 BGB erwirken.[417] Das Jugendamt muss konsequent berücksichtigen, dass es sich bei der Inobhutnahme nur um eine vorläufige Maßnahme handelt, die keine Dauerwirkung entfalten darf.[418] Dies hat auch besondere Auswirkungen auf den konkreten Tagesablauf des in Obhut genommenen Kindes. Kann etwa der Besuch der bisherigen Schule mit der Inobhutnahme und dem Ort der Unterbringung des Kindes in Einklang gebracht werden, so ist eine Herausnahme des Kindes aus seiner bisherigen Schule – insbesondere im laufenden Schuljahr – und die Verbringung an einen anderen Schulort, der zudem mit einer deutlich längeren Anfahrt verbunden ist, nicht zu vertreten. Ebenso muss während der Inobhutnahme ein Umgangskontakt zwischen Eltern und Kind sichergestellt werden, um insbesondere bei jüngeren Kindern einer Entfremdung entgegenzuwirken.[419] Über Einschränkungen oder den gänzlichen Ausschluss des Umgangsrechts entscheidet allein das Familiengericht.

 

Rz. 123

Besondere Bedeutung gewinnt in diesem Kontext auch die ausdrückliche gesetzgeberische Vorgabe des angemessen zu berücksichtigenden mutmaßlichen Willens des Sorge- oder Erziehungsberechtigen. Durch diese Wertung wird die privilegierte rechtliche Position der Eltern in konkreter Ausgestaltung von Art. 6 Abs. 2 GG zusätzlich hervorgehoben und lediglich insoweit eingeschränkt, als im Fall einer ausreichenden Urteilsfähigkeit des Minderjährigen dessen Entscheidungen beachtlich sind.[420] Dies setzt zwangsläufig voraus, dass entsprechend der Vorgabe in § 42 Abs. 2 S. 1 SGB VIII dem betroffenen Kind oder Jugendlichen im Rahmen der ­gebotenen Situationsklärung, einhergehend mit einer intensiven Beratung, auch die zur Verfügung stehenden Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten aufgezeigt werden oder psychologische bzw. sonstige medizinische Beratungen vermittelt werden. Das Jugendamt hat in diesem Rahmen eine gesteigerte Beratungspflicht, folgend aus der gesetzgeberischen Intention, dass im Zuge der Inobhutnahme vorrangig sozialpädagogische, auf Deeskalation gerichtete Aufgaben zu erfüllen sind.[421] Zu diesem Zweck muss das Jugendamt ggf. auch von Amts wegen weitere jugendhilferechtliche Maßnahmen einleiten, wie etwa eine Hilfe zur Erziehung.[422]

 

Rz. 124

Alle Maßnahmen des Jugendamtes müssen sich an diesen Vorgaben ausrichten, zumal die Inobhutnahme nicht die unverändert fortbestehende elterliche Sorge verdrängt, sondern sie allenfalls überlagert[423] und sich hieraus auch besondere Sorgfaltspflichten des Jugendamtes ableiten, deren schuldhafte Verletzung Amtshaftungsansprüche begründen können.[424] Bedeutsam ist dies auch vor dem Hintergrund, dass die Unterbringung bei einer geeigneten Person,[425] in einer geeigneten Einrichtung (z.B. i.S.d. § 34 SGB VIII) oder in einer sonstigen Wohnform erfolgen soll. Hierbei kann sich die Frage stellen, ob eine Pflegefamilie durch das Jugendamt sorgfältig ausgesucht und in der Folge angemessen kontrolliert wurde.[426] Vorfälle in jüngerer Vergangenheit – etwa der sog. "Pascal-Prozess – geben durchaus Anlass, die Einhaltung dieser Vorgaben durch einzelne Jugendämter zumindest kritisch zu hinterfragen."

 

Rz. 125

Bei der konkret zu wählenden Unterbringungsform muss eine einzelfallbezogene Prüfung selbstverständlich sein, die neben dem Alter des Kindes oder Jugendlichen und dessen Herkunft auch den Anlass der Inobhutnahme berücksichtigt.[427] Es ist daher nicht zu vertreten, eine pubertierende Jugendliche, die wegen der von ihr angestrebten – auch sexuellen – Freiheiten in Auseinandersetzung mit ihren traditionell ausgerichteten, aber gleichwohl um Verständnis bemühten Eltern in Konflikt g...

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