Rz. 112

Praktische Bedeutung[320] erlangt die Inobhutnahme vor allem in Fällen

sog. Selbstmelder (§ 42 Abs. 1 Nr. 1SGB VIII; siehe dazu Rdn 113) sowie
einer dringenden Gefahr[321] für das Wohl des Kindes/des Jugendlichen, wenn entweder der Personensorgeberechtigte nicht widerspricht oder die familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann (§ 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII; siehe dazu Rdn 114 ff.) und insbesondere seit 2015 der unbegleiteten Einreise ausländischer Jugendlicher (§ 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII; siehe dazu Rdn 119 ff.).[322]
 

Rz. 113

Bittet ein Kind oder Jugendlicher wirksam um Inobhutnahme – hierfür genügt dessen Fähigkeit zur natürlichen Willensbildung –,[323] so führt diese Selbstmeldung zwingend zu einer Handlungspflicht des Jugendamtes.[324] Es bedarf weder einer Vorprüfung der tatsächlichen Situation, noch muss seitens des um Inobhutnahme Nachsuchenden eine weitergehende Begründung angegeben werden.[325] Entscheidend ist allein das von ihm formulierte subjektive Schutzbedürfnis,[326] das die korrespondierende Leistungsverpflichtung des Jugendamtes auslöst.[327] Die Aufnahmepflicht des Jugendamtes entfällt nur im Ausnahmefall, wenn die Bitte des Minderjährigen offensichtlich nicht ernst gemeint oder rechtsmissbräuchlich ist.[328] Die Inobhutnahme darf nicht von einer zusätzlichen Gefährdungseinschätzung im Sinn des § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII abhängig gemacht werden.[329] Die Bitte des Kindes um Inobhutnahme wird bereits als Indiz für eine Not- und Konfliktlage gesehen.[330] Dies entbindet selbstverständlich das Jugendamt nicht davon, bei der Inobhutnahme den mutmaßlichen Willen des Personensorgeberechtigten zu beachten und entweder dessen Entscheidung oder die des Familiengerichts einzuholen,[331] da nur so eine Verletzung des Elternrechts vermieden werden kann.[332] Von einer Zustimmung zur Inobhutnahme kann daher auch nur ausgegangen werden, wenn der Personensorgeberechtigte eine eigene Willensbildung treffen konnte und nicht nur letztlich widerstandslos unter Aufgabe des Protests eine Übergabe des Kindes an das Jugendamt erfolgt.[333]

 

Rz. 114

Differenziert zu bewerten ist dagegen die Situation bei dringenden Gefahrenlagen. Hier wird kraft Gesetzes ausdrücklich als zusätzliche Voraussetzung der Inobhutnahme entweder der mangelnde Widerspruch des Personensorgeberechtigten oder die nicht rechtzeitig einzuholende familiengerichtliche Entscheidung vorgegeben.

 

Rz. 115

Handlungsvoraussetzung für das Jugendamt ist zunächst eine dringende Gefahr[334] (vgl. auch § 8a Abs. 3 S. 3 SGB VIII) d.h. eine Situation, die bei weiterer Entwicklung eine erhebliche Schädigung des geistigen und seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit erwarten lässt[335] und sich zudem nach dem objektiv anzunehmenden Verlauf alsbald auswirken wird.[336] Es gilt also der Maßstab des § 1666 BGB.[337] Das Jugendamt ist in diesem Rahmen gehalten, alle Einzelfallumstände zu prüfen, um die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts angemessen bewerten zu können[338] und sodann eine der Verhältnismäßigkeit entsprechende Handlung vorzunehmen,[339] mit der der Gefahrenlage angemessen begegnet werden kann.[340] Es bedarf an dieser Stelle einer sorgfältigen fachgerechten Prüfung durch das Jugendamt,[341] ob die Inobhutnahme nach den Vorgaben des § 42 SGB VIII berechtigt ist. Jede vermeidbare Fehleinschätzung[342] geht zu Lasten des Jugendamtes, und dann auch die Kostenübernahme der rechtswidrigen Inobhutnahme.[343]

 

Rz. 116

Die vorzunehmende Prüfung intendiert eine zwingende Kontaktaufnahme mit den Eltern – soweit dies mit dem Schutz des Kindes vereinbar ist – um weitergehend abzuklären, ob sie willens und in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Je nach der Reaktion der Sorgeberechtigten gestaltet sich auch die weitere Vorgehensweise des Jugendamtes:[344]

erfolgt ein Widerspruch gegen die Inobhutnahme bei gleichzeitiger Bereitschaft und Fähigkeit zur Abwendung der Gefahrenlage, so scheidet die Inobhutnahme aus,
bleibt die vorgesehene Inobhutnahme ohne Widerspruch,[345] so wird sie durchgeführt,
erfolgt ein Widerspruch ohne Fähigkeit der Eltern zur Abwendung der Gefahrenlage, so muss die Rechtzeitigkeit einer einzuholenden familiengerichtlichen Entscheidung abgeschätzt werden (siehe dazu Rdn 118); ist diese nicht sicher zu gewährleisten, so muss im Interesse des betroffenen Kindes die Inobhutnahme erfolgen.
 

Rz. 117

Nicht gerechtfertigt ist die Inobhutnahme, wenn das Kind bereits bei einer im Sinne des SGB VIII als geeignet anzusehenden Person untergebracht ist und dort auch bleiben möchte.[346] Davon zu unterscheiden ist allerdings die Situation, dass ein Minderjähriger im Rahmen eines bestehenden Gesamtkonzepts der Inobhutnahme mit dem Ziel einer endgültigen Unterbringung – etwa in einem Kinderheim – vorübergehend bei einer Vertrauensperson untergebracht wird.[347] Dann stellt auch diese vorübergehende Unterbringung eine – Kostenerstattung auslösende – Inobhutnahme dar.[348] Kann zwischen getrennt lebe...

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