Rz. 45

Insofern ist festzustellen, dass in der Praxis das Informationserhebungsrecht als Ausfluss des Fair-trial-Prinzips de facto gegen Beibringungslast steht. So führt Cierniak aktuell aus: "Besonderheiten, die im Einzelfall Zweifel an der Korrektheit der Messung aufkommen lassen, können und müssen vom Betroffenen bzw. seinem Verteidiger vorgebracht werden, wenn das Gericht sie nicht von sich aus aufgreift; man kann hier ruhig von einer gewissen "Beibringungslast" des Betroffenen sprechen."[49]

 

Rz. 46

Allerdings kann eine umfassende Teilhabe am Strafprozess ohne weitere Informationen schlechterdings nicht als fair bezeichnet werden und der Zugang zu bestimmten Informationen ist unerlässlich. So bejaht Cierniak jedenfalls in folgenden Konstellationen ein Recht auf Akteneinsicht:

Messung entgegen den Richtlinien für die Verkehrsüberwachung in zu geringem Abstand zum Beginn oder Ende einer Geschwindigkeitsbegrenzung;
Eingriffe in Messgerät, Zubehör oder Videofahrzeug nach der letzten Eichung;
Ablauf der Gültigkeitsdauer der Eichung;
Ausstellung des Eichscheins vor Bauartzulassung durch die PTB;
Eichung unter Zugrundelegung einer zum Messzeitpunkt überholten Bedienungsanleitung;
Eichung materiell fehlerhaft wegen nicht vorhandener Bauartzulassung in Bezug auf einen zwischengeschalteten sog. CAN-Bus;
fehlende Zulassung einer verwendeten Kamera durch die PTB;
Messung in einem nicht zugelassenen Entfernungsbereich zwischen Fahrzeug und Messgerät;
Messwinkelabweichungen bei Radarmessgeräten;
keine Übertragung der Fahrbahnneigung auf Lichtempfänger bzw. Sensorkopf bei Lichtschranken und Einseitensensoren;
Durchführung der Funktionstests unter Abweichung von der Bedienungsanleitung (Visiertest, Null-Messung usw.);
konkrete Messung durch ein nicht ausreichend geschultes Mitglied des Messtrupps;
ungewöhnlich hohe Annulationsrate;
Reflexionen durch andere Objekte wie großflächige Betonwände oder Gebäudemauern beim Einsatz von Radargeräten;
Schräglage des nachfahrenden ProViDa-Motorrads;
Veränderung der Position des Messgeräts infolge zu weicher Fahrbahnbankette;
hohe Verkehrsdichte und schlechte Sichtverhältnisse bei Lasermessgeräten ohne fotografische Dokumentation;
Auslösung der Messung durch einen Schatten oder einen sonstigen Kontrast;
konkrete Störung des Messvorgangs durch Fremdfahrzeuge;
Fehldokumentation unter Verwechslung von Foto- und Messlinie bei ES 3.0;
Fehlen einer korrekt gekennzeichneten und dokumentierten Fotolinie;
Fotolinie ist nicht über die volle Breite im Messfoto abgebildet;
unplausible Positionierung des Fahrzeugs des Betroffenen in Bezug auf die Fotolinie;
auf dem gesamten Messfilm stark abweichende Positionen einiger der aufgenommenen weiteren Fahrzeuge zur Fotolinie;
im Messfeldrahmen von LEIVTEC XV2 und 3 ist ein weiteres ankommendes Fahrzeug auf allen Bildern bzw. dem Start- und Endbild größer als 1/3 des Rahmens abgebildet;
gemessenes Fahrzeug hat nach erfolgter Geschwindigkeitsmesswertbildung mit PoliScan speed gebremst, beschleunigt oder einen Fahrstreifenwechsel eingeleitet mit der Gefahr einer falschen Positionierung des Auswerterahmens;
der Auswerterahmen auf dem Messfoto erfasst das gerätenahe Kraftfahrzeug auf dem rechten Fahrstreifen, würde aber auch das schräg nach hinten versetzte Fahrzeug auf dem linken Streifen erfassen;
von PoliScan speed selbst nicht erkannter Kamerafunktionsdefekt mit der Folge verzögerter Fotoauslösung und fraglicher Zuordnung des Geschwindigkeitsverstoßes;
PoliScan-speed-Messung auf dritter Fahrspur, in Kurvenbereichen, bei niedriger Geschwindigkeit oder Identifizierung von Pkw als Lkw oder umgekehrt;
verdachtsunabhängige Messung.

 

Rz. 47

Hier ist auch die Frage etwaiger Reparaturarbeiten, Wartungen, Eingriffe etc. an den Messgeräten von Bedeutung – schließlich müssen die Authentizität der Messung und die fehlerfreie Funktion des Messgerätes (durch den Betroffenen oder Beschuldigten) nachgeprüft werden können.[50] Schon aus den Reparaturen aber ist ersichtlich, dass ggf. fehlerhafte Ergebnisse generiert werden können. Die Akteneinsicht zu gewähren, selbst wenn es sich nicht um aktengegenständliche Informationen handelt, ist damit Ausfluss des Fair-trial-Prinzips. Dies bestätigte auch jüngst das OLG Brandenburg[51] unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des OLG Jena[52] für die Frage der sog. "Lebensakte" eines eingesetzten Messgerätes.

Ebenso gilt dies für die konkrete Messdatei bei der Verwaltungsbehörde.[53]

[49] Cierniak, Prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen, zfs 2012, 664 ff.
[50] So den Antrag nach § 69 Abs. 5 S. 1 OWiG bejahend AG Prenzlau v. 22.8.2016 – 21 OWi 485/16, StraFo 2016, 477.
[51] OLG Brandenburg v. 8.9.2016 – (2 B) 53 Ss-Owi 343/16 (163/16).
[52] OLG Jena NJW 2016, 1457.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge