Rz. 84

Im Rahmen des HKÜ ist es nicht Aufgabe des Familiengerichts, die Frage zu prüfen, welchem Elternteil das Sorgerecht zu übertragen ist (siehe Art. 16, 19 HKÜ). Dies wird leider in der Praxis – auch von Jugendämtern – gelegentlich verkannt. Es geht vielmehr nur um die Frage, ob der antragstellende Elternteil berechtigt ist, auf Grundlage des HKÜ die Rückführung des Kindes zu verlangen.[232]

 

Rz. 85

Das HKÜ ist verfassungsgemäß.[233] Es dient zum einen dem Ziel, Kinder vor einem widerrechtlichen Verbringen in das Ausland zu bewahren.[234] Entführungen sollen also generalpräventiv verhindert werden. Zum anderen hat es den Zweck, das durch einen Elternteil ohne Zustimmung des anderen Elternteils in einen anderen Vertragsstaat[235] verbrachte gemeinsame Kind möglichst schnell wieder zurückzuführen.[236] Leitgedanke ist das Kindeswohl, verbunden mit einer schnellen Reaktion auf widerrechtliche Selbsthilfe.[237]

 

Rz. 86

Gegenüber diesen Zielen können sich nur ungewöhnlich schwerwiegende, im Kindeswohl begründete Gesichtspunkte durchsetzen.[238] Die mit der Rückführung verbundenen gewöhnlichen Schwierigkeiten begründen grundsätzlich kein Rückführungshindernis. Es ist hier im Rahmen der Folgenabwägung eine restriktive Auslegung geboten.[239]

 

Rz. 87

Die besondere Eilbedürftigkeit bei Verfahren nach dem HKÜ ergibt sich sowohl aus der Be­stimmung des Art. 11 HKÜ – in der Regel sechs Wochen – als auch aus der Natur des Rückführungsverfahrens. Mit fortschreitender Zeit lässt sich eine Rückführung immer weniger mit dem Kindeswohl vereinbaren. Das HKÜ ist deshalb auf größtmögliche Beschleunigung des Rückführungsverfahrens ausgerichtet.[240] Ein Rückführungsverfahren, das zu lange dauert, verletzt Art. 6 Abs. 1 EMRK.[241]

 

Rz. 88

Durch das HKÜ soll nicht allein die formale Rechtsposition (das Sorgerecht) eines Elternteils, sondern vielmehr das Recht des Kindes auf Beachtung seines Lebensgleichgewichts geschützt werden. Das Abkommen soll insbesondere dafür sorgen, dass die emotionalen, sozialen und anderen Bedingungen, unter denen sich das Leben des Kindes abspielt, verstetigt und tatsächlich nicht beeinträchtigt werden. Außerdem soll eine sachnahe Sorgerechtsregelung am Aufenthaltsort sichergestellt werden.

 

Rz. 89

Durch die Rückführung an den gewöhnlichen Aufenthaltsort werden außerdem die Interessen beider Elternteile berücksichtigt. Die ursprüngliche internationale Zuständigkeit für die Sorgerechtsentscheidung bleibt gewahrt. So wird vermieden, dass ein Elternteil aus der rechtswidrigen Kindesentführung einen Vorteil zieht; forum shopping wird entgegengewirkt.

Der Schutz des Kindes durch das HKÜ steht im Schnittpunkt von Grundrechtspositionen der Eltern. Soweit es zum Widerstreit der Elterninteressen und Belangen des Kindes kommt, ist den – ebenfalls grundrechtlich verbrieften – Kindesinteressen der Vorrang einzuräumen.[242]

[232] OLG Frankfurt FamRZ 1997, 110.
[233] Vgl. BVerfG FamRZ 1999, 85, 87; 1997, 1269; 1996, 1267; 1996, 405; zum Ganzen ausführlich Völker, FamRZ 2010, 157.
[234] BVerfG FamRZ 1997, 1269; OLG Karlsruhe FamRZ 2000, 1428; KG FamRZ 1997, 1098; AG Saarbrücken FamRZ 2003, 398, Anm. Witteborg, IPRax 2005, 330; zur strafrechtlichen Beurteilung einer Kindesentführung siehe Caspary, FPR 2001, 215.
[235] Ein Internetlink zu den aktuellen Vertragsstaaten findet sich unter § 14 E.
[236] BVerfG FamRZ 1999, 1054; 1996, 405; 1995, 663; OLG Düsseldorf FamRZ 1999, 113; OLG Celle FamRZ 1995, 955.
[237] BVerfG FamRZ 1996, 405; OLG München DAVorm 2000, 1157; OLG Karlsruhe FamRZ 2000, 1428.
[238] BVerfG FamRZ 1996, 405.
[239] EuGHMR NZFam 2015, 626; KG FamRZ 1997, 1098.
[240] BVerfG FamRZ 1999, 1053; vgl. Bach/Gildenast, Rn 34.
[241] EuGHMR FamRZ 2015, 469 (im entschiedenen Fall sieben (!) Jahre).
[242] BVerfG FamRZ 1999, 1054; 1997, 1269.

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