Rz. 138

Grundsätzlich ist im Verfahren nach dem HKÜ eine Kindesanhörung verfassungsrechtlich noch – de lege lata – einfachrechtlich erforderlich, weil Rückführungsentscheidungen nach Art. 19 HKÜ nicht als Sorgerechtsentscheidungen anzusehen sind[429] und HKÜ-Rückführungsverfahren keine Kindschaftssachen sind. Zwar verweist § § 14 Nr. 2 IntFamVG (allgemein) auf das FamFG. § 151 FamFG, der den Katalog von Kindschaftsverfahren abschließend regelt, erfasst jedoch HKÜ-Rückführungsverfahren nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich. Diese sind – sicher – keine Sorgerechtsverfahren. Auch können sie bestenfalls im Wege der Analogie als Herausgabeverfahren angesehen werden. Denn der Rückführungsanspruch aus Art. 12 HKÜ geht einerseits über die reine Herausgabe an den zurückgelassenen Elternteil hinaus, weil der entführende Elternteil dazu verpflichtet ist, das Kind zum zurückgelassenen Elternteil zurückzubringen.[430] Andererseits bleibt er auch hinter dem Herausgabeanspruch zurück, da "nur" die Rückführung in den Ursprungsstaat erstritten werden kann. Die Herausgabe des Kindes an den HKÜ-Antragsteller kann allein als Vollstreckungsmittel erfolgen.[431] § 159 FamFG gilt also nicht. Die Kindesanhörung ist nur in Art. 11 Abs. 2 der Brüssel IIa-VO verpflichtend vorgesehen – und dann nach derzeit geltendem Recht im Rahmen von § 26 FamFG durchzuführen –, nicht aber in Fällen, in denen ein Staat nicht Mitgliedstaat dieser Verordnung ist. Die Kindesanhörung ist regelmäßig aufschlussreich und kann der Klärung der Frage dienen, ob das Rückführungshindernis nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. b oder Art. 13 Abs. 2 HKÜ vorliegt. Möglich – und oft sinnvoll – ist sie auf der Grundlage von § 26 FamFG auf jeden Fall.[432] De lege ferenda sollte einfachrechtlich im IntFamRVG klarstellen, dass in HKÜ-Rückführungsverfahren das Kind vom Familiengericht persönlich anzuhören ist.[433] Es entspricht der Subjektstellung des Kindes als Träger eigener Grundrechte, dass es zu der für es oft existentiellen und sein weiteres Leben stark prägenden Frage einer Rückführung in den Herkunftsstaat dem entscheidenden Richter persönlich seine Meinung kundtun kann.

Im Falle gegenläufiger Rückführungsanträge ist es ohnehin regelmäßig geboten zu ermitteln, wie die Kinder eine Rückführung und eine mögliche erneute Rückführung verkraften werden. Dies kann durch Kindesanhörung, durch Begutachtung des Kindes[434] oder Auskunft der zuständigen Behörde geschehen.[435]

[429] BVerfG FamRZ 1999, 85; OLG Stuttgart FamRZ 2009, 2017; OLGR 2009, 402; Völker, FamRZ 2010, 157, 163 m.w.N.; Carl, FPR 2001, 211; Weitzel, DAVorm 2000, 1059.
[430] BVerfG IPRspr. 2010, Nr. 119 b.
[431] Vgl. OLG München FamRZ 2005, 1002; Anm. Schulz, FamRBint 2005, 6; Anm. Völker, jurisPR-FamR 19/2005, Anm. 6.
[432] Völker, FamRZ 2010, 157, 163 f.
[433] So die Empfehlung 1b des Arbeitskreises 23 des 20. Deutschen Familiengerichtstages.
[434] Zur Notwendigkeit einer kinderpsychiatrischen Begutachtung siehe Klosinski, FuR 2000, 408; ders., FPR 2001, 206.
[435] BVerfG FamRZ 1999, 85; Carl, FPR 2001, 211; Schweppe, FPR 2001, 203.

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