Rz. 51

Gerade nach Verkehrsunfällen ist häufig, dass ein technisches Gutachten allein nicht ausreicht, um die streitigen Fragen zu beantworten. Paradebeispiel ist die Frage, ob eine HWS-Verletzung unfallbedingt ist. Hier ist sowohl der technische Gutachter im Hinblick auf die bei der Kollision wirkenden Kräfte als auch der medizinische Gutachter gefragt.[69]

 

Rz. 52

Grundsätzlich muss sich jeder Gutachter nach seiner Beauftragung fragen, ob er über die erforderliche Sachkunde verfügt, die für die Erstellung des Gutachtens notwendig ist.

Sind mehrere Fachgebiete betroffen, so muss der Gutachter klären, welchen Fachbereich er mit seiner Fachkompetenz abdecken kann. Das Gesetz gibt hierzu in § 407a Abs. 1 S. 1 ZPO klare Vorgaben:

Zitat

"Der Sachverständige hat unverzüglich zu prüfen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und ohne Hinzuziehung weiterer Sachverständiger erledigt werden kann."

 

Rz. 53

Eine Prüfung des Gutachtenauftrages ist für den bestellten Gutachter auch deshalb erforderlich, weil dem Gericht bei schwierigen (insbesondere medizinischen) Fragen häufig die Sachkunde fehlt, um die Beweisfrage richtig zu erkennen und dann entsprechend klar und zutreffend zu formulieren. So steht der beauftragte Gutachter oft vor dem Problem, dass er nach dem Studium der Akte erkennt, dass

die Beweisfrage doch nicht in sein Fachgebiet fällt,
die Beweisfrage zwar in sein Fachgebiet fällt, er diese aber nicht erschöpfend behandeln kann, sondern weitere Fachgebiete hinzuziehen muss
die Beweisfrage das Problem nicht oder nicht vollständig erfasst

Der Gutachter darf diese "Mängel" der Beauftragung nicht eigenmächtig beheben. Erkennt der Gutachter, dass die Beweisfrage nicht oder nicht ausschließlich in sein Fachgebiet fällt und weitere Gutachter hinzugezogen werden müssen, regelt § 407a Abs. 1 S. 2 ZPO:

Zitat

"Ist das nicht der Fall, so hat der Sachverständige das Gericht unverzüglich zu verständigen."

 

Rz. 54

Der Sachverständige darf insbesondere nicht ohne Abstimmung mit dem Gericht eine eigene interdisziplinäre Begutachtung veranlassen. Lautet die Beweisfrage an einen Orthopäden in einem Fall, in dem es um eine HWS-Beeinträchtigung geht, beispielsweise:

Zitat

"Ist der Kläger durch den Unfall arbeitsunfähig geworden?",

so darf der vom Gericht beauftragte orthopädische Gutachter nicht von sich aus noch weitere Gutachter einschalten, wenn er zum Beispiel der Auffassung ist, zur umfassenden Prüfung einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit gehöre auch die Beurteilung psychischer Beeinträchtigungen. Wer als bestellter Gutachter eigene Zusatzgutachten oder Zusatzuntersuchungen außerhalb seines Fachgebietes ohne Abstimmung veranlasst, läuft Gefahr, wegen Befangenheit von den Parteien abgelehnt zu werden. Es ist auch immer zu berücksichtigen, dass es aus Sicht des Gerichts ausreichend sein kann, es im vorgenannten Beispiel bei der rein orthopädischen Begutachtung zu belassen. Unter Umständen ist aus juristischer Sicht keine weitergehende Begutachtung und keine Einschaltung weiterer Gutachter anderer Fachrichtungen erforderlich. So kann das Gericht zum Beispiel bei einer möglicherweise bestehen psychischen Problematik davon ausgehen, dass hierfür der "Schädiger" wegen eines fehlenden Zurechnungszusammenhanges nicht haftet. Diese Fragen fallen nicht in den Fachbereich des Gutachters, sondern obliegen der ausschließlichen Entscheidungskompetenz des Gerichts. Besonders gefährlich ist es, wenn der Gutachter noch nicht einmal offen legt, dass er mit bestimmten Aussagen sein Fachgebiet verlassen hat. Es ist nämlich nicht gesichert, dass die Betroffenen (das Gericht bzw. die Parteien des Prozesses) dies bemerken. Je komplexer die Materie ist, desto größer ist dann die Gefahr einer falschen Entscheidung auf der Grundlage eines nicht ausreichend fachlich abgesicherten Gutachtens.

 

Rz. 55

Ist der Sachverständige der Auffassung, dass eine fachübergreifende, interdisziplinäre Begutachtung erforderlich ist, so muss er, soweit der Gutachtenauftrag dies nicht eindeutig regelt, den Kontakt mit dem Gericht suchen und das weitere Vorgehen abstimmen.

 

Rz. 56

Liegt ein interdisziplinäres Sachverständigengutachten vor, so muss jeder Teilgutachter zu dem von ihm bearbeiteten und verantworteten Teil des Gutachtens im Falle einer mündlichen Erläuterung des Gutachtens Stellung nehmen. Daher verbietet es sich, dass zum Beispiel der Gutachter nur eines Teils des Gutachtens dieses in seiner Gesamtheit erläutert.[70]

[70] Zur interdisziplinären Begutachtung vgl. im Übrigen Heß/Hugemann, Forum Medizinische Begutachtung, GenRe 2004, 28 ff.

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