Rz. 107

BGH, Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16, zfs 2017, 258 = VersR 2017, 374

Zitat

ZPO § 286; StVG § 17; PflVG § 12

a) Bei Auffahrunfällen kann, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO) (Fortführung Senatsurt. v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, BGHZ 192, 84 Rn 7).
b) Der Auffahrunfall reicht als solcher als Grundlage eines Anscheinsbeweises aber dann nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die – wie etwa ein vor dem Auffahren vorgenommener Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs – als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (Fortführung Senatsurt. v. 13.12.2011, a.a.O.).
c) Bestreitet der Vorausfahrende den vom Auffahrenden behaupteten Spurwechsel und kann der Auffahrende den Spurwechsel des Vorausfahrenden nicht beweisen, so bleibt – in Abwesenheit weiterer festgestellter Umstände des Gesamtgeschehens – allein der Auffahrunfall, der typischerweise auf einem Verschulden des Auffahrenden beruht. Es ist nicht Aufgabe des sich auf den Anscheinsbeweis stützenden Vorausfahrenden zu beweisen, dass ein Spurwechsel nicht stattgefunden hat.

a) Der Fall

 

Rz. 108

Die Klägerin nahm den Beklagten als Entschädigungsfonds im Sinne des § 12 PflVG auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden in Anspruch.

Die Klägerin wurde im Juni 2012 auf der Bundesautobahn 44 als Fahrerin ihres Motorrads in einen Verkehrsunfall mit einem Kastenwagen mit Anhänger (im Folgenden "Gespann") verwickelt. Sie wurde bei dem Unfall erheblich verletzt. Das Gespann konnte nicht ermittelt werden. Wie es zum Unfall kam, war zwischen den Parteien im Einzelnen streitig.

Die Klägerin behauptete im Wesentlichen, das auf der Überholspur befindliche Gespann sei unmittelbar vor dem Zusammenstoß plötzlich "brutal" abgebremst und dann ruckartig auf die rechte Fahrspur, auf der sie sich befunden habe, hinübergezogen worden. Sie habe keine Möglichkeit gehabt, ihm auszuweichen, weshalb sie in dessen hintere Flanke gefahren sei.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihr Begehren weiter.

b) Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 109

Das Berufungsurteil hielt der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

Im Ansatz zutreffend war das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass ein Ersatzanspruch gegen den Entschädigungsfonds nach § 12 PflVG das Bestehen eines gegen den Halter, den Eigentümer oder den Fahrer eines Kraftfahrzeugs oder Anhängers gerichteten Schadensersatzanspruchs voraussetzt. Die Annahme des Berufungsgerichts, ein solcher Anspruch bestehe nicht, weil die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung dazu führe, dass die Klägerin für den Unfall im Verhältnis zu Fahrer und Halter des Gespanns alleine hafte, begegnete keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

 

Rz. 110

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des § 254 BGB – Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. nur Senatsurt. v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, NJW 2016, 1100 Rn 10 m.w.N.). Die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung hielt einer Überprüfung anhand dieses Maßstabs stand.

 

Rz. 111

Die Revision war der Auffassung, das Berufungsgericht hätte der von ihm vorgenommenen Abwägung kein Verschulden der Klägerin zugrunde legen dürfen. Das traf nicht zu. Das Berufungsgericht war ohne Rechtsfehler zum Ergebnis gelangt, nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises, deren Anwendung der vollen revisionsrechtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. etwa Senatsurt. v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, NJW 2016, 1100 Rn 12; v. 26.3.2013 –VI ZR 109/12, NJW 2013, 2901 Rn 27; v. 16.3.2010 -– VI ZR 64/09, NJW-RR 2010, 1331 Rn 16, m.w.N.), sei davon auszugehen, dass die Klägerin den Unfall verschuldet habe.

 

Rz. 112

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auffahrunfällen, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erfor...

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