Rz. 322

Die Zustellung eines Schriftstückes ist regelmäßig kein Selbstzweck, sondern dient der Verwirklichung des Rechts auf rechtliches Gehör, wie es in Art. 103 GG verankert ist. Insoweit stehen keine Gründe entgegen, eine Heilung von Zustellungsmängeln für den Fall vorzusehen, dass das zuzustellende Schriftstück dem Adressaten tatsächlich zugegangen ist.

 

Rz. 323

Nach der früheren Fassung von § 187 S. 2 ZPO a.F. hat dieser Grundsatz jedoch insoweit eine Einschränkung erfahren, als eine Heilung von Zustellungsmängeln nicht möglich war, wenn mit der Zustellung eine Notfrist in Gang gesetzt werden sollte. Die Notfrist begann also nicht zu laufen.

 

Rz. 324

Seit dem 1.7.2002 bestimmt der neue § 189 ZPO, dass auch eine mangelhafte Zustellung, die eine Notfrist in Gang setzen soll, geheilt wird, wenn das zuzustellende Schriftstück dem Adressaten tatsächlich zugeht.

 

Rz. 325

 

Hinweis

Hier ist also eine größere Vorsicht für die anwaltliche Fristenkontrolle geboten. Im Zweifel ist die Frist immer vom tatsächlichen Zugang an zu rechnen. Entsprechende Anweisungen sind in der Kanzlei zu erteilen.

 

Rz. 326

 

Tipp

Wurde die Notfrist versäumt, weil in einer zu entschuldigenden Weise davon ausgegangen wurde, dass diese mangels ordnungsgemäßer Zustellung nicht zu laufen begonnen hat, so hilft nur noch der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

 

Rz. 327

Nach § 189 ZPO kann allerdings nur eine mangelhafte Zustellung geheilt werden, nicht dagegen eine unterlassene Zustellung. Fehlt es also an dem Willen, eine gesetzmäßige Zustellung vorzunehmen, so ist eine Heilung nach § 189 ZPO nicht möglich.[233]

 

Rz. 328

 

Beispiel

Der Gläubiger lässt dem Drittschuldner ein vorläufiges Zahlungsverbot – Vorpfändung – nach § 845 ZPO durch einen privaten Boten zustellen. Da § 845 ZPO ausdrücklich die Zustellung durch einen Gerichtsvollzieher verlangt, kommt eine Heilung nur in Betracht, wenn der Gerichtsvollzieher mit der Zustellung beauftragt wurde, diese aber sodann mangelhaft ausgeführt hat. Bei der Übermittlung mittels eines privaten Boten fehlt es dagegen an dem erforderlichen – gesetzmäßigen – Zustellungswillen.

 

Rz. 329

Allerdings kann es rechtsmissbräuchlich sein, sich auf den Mangel der Zustellung zu berufen. So hat das KG Berlin entschieden, dass die Berufung auf eine fehlerhafte Vollziehung einer einstweiligen Verfügung rechtsmissbräuchlich ist, wenn die Beschlussverfügung fehlerhaft an die Partei (statt an ihren Verfahrensbevollmächtigten) zugestellt worden ist, jedoch der Verfahrensbevollmächtigte bewusst eine Übermittlung der Beschlussverfügung an sich innerhalb der Vollziehungsfrist unterbunden hat.[234]

 

Rz. 330

Das Schriftstück ist dem Adressaten nach der gängigen Definition dann zugegangen, wenn es derart in seinen Machtbereich gelangt ist, dass er Gelegenheit hatte, vom Inhalt des zuzustellenden Schriftstückes Kenntnis zu nehmen.[235] Wann dies der Fall ist, hat das Gericht im Zweifelsfall durch eine Beweisaufnahme zu klären.[236] Die Beweislastverteilung bestimmt sich dabei nach allgemeinen Regeln, so dass derjenige die Beweislast für den tatsächlichen Zugang trägt, der hieraus eine günstige Rechtsfolge für sich ableiten will.[237]

 

Rz. 331

Die Wirkung der Zustellung und damit auch die Heilung des Zustellungsmangels, tritt erst in dem Zeitpunkt ein, in dem das zuzustellende Schriftstück dem Adressaten zugegangen ist.

 

Rz. 332

Umstritten ist, ob über § 189 ZPO auch eine Heilung von Mängeln des zuzustellenden Schriftstückes in Frage kommt.

 

Rz. 333

 

Beispiel

Die Zustellungsnorm verlangt die Zustellung einer Ausfertigung des zuzustellenden Schriftstückes. Stattdessen wird jedoch nur eine Abschrift zugestellt.

 

Rz. 334

Nachdem die §§ 166 ff. ZPO keine Regelungen mehr darüber enthalten, welche Form das zuzustellende Schriftstück hat, d.h. sich dies allein aus dem materiellen Recht oder dem sonstigen Verfahrensrecht ergibt, kann § 189 ZPO nur die Heilung von Mängeln bei der Ausführung der Zustellung erfassen, nicht aber Mängel des zuzustellenden Schriftstückes.[238] Dies scheint auch der Gesetzgeber vor Augen gehabt zu haben.[239] Darüber hinaus muss beachtet werden, dass es keine Frage des Zustellungsrechtes und seiner Heilungsvorschrift sein kann, ob Abweichungen vom materiellen Recht oder vom sonstigen Prozessrecht unbeachtlich bleiben können.

 

Rz. 335

 

Hinweis

Ist eine Heilung nach § 189 ZPO ausgeschlossen, kommt allerdings immer noch eine Unbeachtlichkeit des Mangels durch rügelose Einlassung des Gegners nach § 295 ZPO in Betracht.

 

Rz. 336

Nach anderer Auffassung sollen über § 189 ZPO auch solche Mängel geheilt werden, die dem zuzustellenden Schriftstück anhaften.[240] Eine Auseinandersetzung mit der neuen Systematik des Zustellungsrechtes, insbesondere der Beschränkung der Neuregelung auf das Zustellungsverfahren, fehlt hier jedoch, so dass diese Auffassung nicht zu überzeugen vermag.

 

Rz. 337

§ 189 ZPO kann nur Zustellungsmängel heilen, nicht aber einen fehlenden Annahmewillen ersetzen. Sendet eine der in § 174 Abs. 1 ZPO genannten Personen, die...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge