Rz. 194

SGB XII und SGB II zielen auf unterschiedliche Personengruppen ab, haben unterschiedliche Einkommens- und Vermögensbegriffe, unterschiedliche Schontatbestände und deshalb auch unterschiedliche Regressformen: Sie müssen daher voneinander unterschieden werden.

 

Rz. 195

 

Fallbeispiel 7: Die großzügige Mutter II

Die Mutter M will ihrer Tochter T 1 im Wege der vorweggenommenen Erbfolge einen Nießbrauch an einer Wohnung zuwenden und 100.000 EUR, weil die zweite Tochter auch schon Geld erhalten habe. Sie bittet 2021 um Erstellung eines Zuwendungsvertrages für ihre Tochter.

Sie berichtet, dass ihre 55-jährige Tochter T 1 bereits seit Jahren keinen Job mehr habe und ziemlich viele Schulden. Anfangs sei sie krank gewesen, dann "ausgesteuert". Sie habe zunächst Arbeitslosengeld bezogen und sei jetzt voll erwerbsgemindert. Sie beziehe seit sechs Jahren 450 EUR Erwerbsminderungsrente, jetzt befristet bis zum 31.12.2022. Sie erhalte "vom Amt" ergänzende Hilfe für Unterkunft und Heizung. Die Tochter wolle aber sehen, dass sie doch bald wieder auf eigenen Füßen stehe und arbeiten gehen könne. Vielleicht ziehe sie auch mit ihrem Freund zusammen.

 

Rz. 196

Der Fall zeigt eine Vielzahl von Fragen auf, die sich aus der Bedürftigkeit der Tochter ergeben. Zunächst muss deshalb ermittelt werden, von welchem "Amt" die Tochter aktuell Leistungen neben ihrer Rente (SGB VI) erhält und wie sich die gedachte Zuwendung auf den konkreten aktuellen und zukünftigen Leistungsbezug auswirken kann. Stets geht es für den Zuwendenden darum, mit dem zivilrechtlich zulässigen Instrumentarium so zu navigieren, dass daraus keine leistungseinschränkenden oder -vernichtenden Konsequenzen für den Hilfesuchenden im sozialhilferechtlichen Leistungsverhältnis resultieren. Ohne Abgrenzung der Leistungssysteme gegeneinander kann man den Fall – in Gegenwart und Zukunft gedacht – nicht zutreffend lösen.

 

Rz. 197

§ 21 SGB XII, §§ 5, 7, 19 SGB II grenzen die Leistungen und den berechtigten Personenkreis der beiden Existenzsicherungssysteme für deren Elementarbedarf voneinander ab.

Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 SGB II Personen, die

das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben,
erwerbsfähig sind,
hilfebedürftig sind und
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.
 

Rz. 198

Das maßgebliche Unterscheidungskriterium zum SGB XII ist die Erwerbsfähigkeit bzw. das Leben mit einem Erwerbsfähigen in einer Bedarfsgemeinschaft. Was Erwerbsfähigkeit bedeutet, wird in § 8 SGB II definiert. Die "gesundheitliche" Erwerbsfähigkeit[108] greift auf die Definition des § 43 SGB VI im Rentenversicherungsrecht zurück. Gesundheitlich erwerbsfähig ist, wer nicht voll erwerbsgemindert ist.

 

Rz. 199

Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI wird nach folgenden Kriterien festgestellt:

Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt dauerhaft weniger als drei Stunden = volle Erwerbsminderungsrente = kein Arbeitslosengeld II/Leistungen nach SGB XII
Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt drei bis unter sechs Stunden = teilweise erwerbsgemindert bei Vermittlungsmöglichkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt = erwerbsfähig i.S.d. SGB II
Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt drei bis unter sechs Stunden = rechtlich voll erwerbsgemindert, falls keine Vermittlungsmöglichkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt besteht = erwerbsfähig i.S.d. SGB II.
 

Rz. 200

Erwerbsfähig ist also jeder, der auf der Grundlage einer Fünftagewoche fünf mal drei Stunden pro Tag arbeiten kann. Andere Hinderungsgründe – wie z.B. Kindererziehung – sind nicht relevant.

 

Rz. 201

Unter die Grundsicherung der §§ 41 ff. SGB XII fallen dauerhaft voll erwerbsgeminderte Erwachsene (§ 41 Abs. 3 SGB XII, §§ 43, 102 Abs. 2 S. 4 SGB VI) oder Erwachsene, die oberhalb der Altersgrenze von höchstens 67 Jahren (§ 41 Abs. 2 SGB XII) liegen.
Unter die Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 19 Abs. 1, 21 SGB XII) fallen auf Zeit voll erwerbsgeminderte Erwachsene (§§ 43, 102 Abs. 2 S. 4 SGB VI – auf einen Rentenbezug kommt es nicht an). Falls diese mit einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, haben sie einen Anspruch auf Sozialgeld (§ 19 Abs. 1 S. 2 SGB II).
Vorübergehend erwerbsgeminderte Erwachsene (voraussichtlich nicht länger als sechs Monate), die innerhalb der Altersgrenzen des § 7a SGB II sind, gelten nach § 8 SGB II als erwerbsfähig und können Arbeitslosengeld II beanspruchen.
Kinder unter 15 Jahren haben Anspruch auf Sozialgeld, wenn ihre Eltern oder der Elternteil, mit dem sie in einer Bedarfsgemeinschaft zusammenleben, Anspruch auf Grundsicherung nach dem SGB II haben/hat (§ 19 Abs. 1 S. 2 SGB II).
Kinder unter 15 Jahren haben Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII, wenn ihre Eltern Anspruch auf Sozialhilfe haben.
Kinder unter 15 Jahren haben Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, wenn sie bei Dritten leben und keine Leistungen nach dem SGB VIII (Jugendhilfe) e...

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