Rz. 229

Die tatrichterliche Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe bei dem Unfall eine HWS–Distorsion der Stufe 1 erlitten, war aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

 

Rz. 230

Die Frage, ob sich der Kläger bei dem Unfall überhaupt eine Verletzung zugezogen hatte, betraf die haftungsbegründende Kausalität, wobei der Nachweis des Haftungsgrundes nach § 286 ZPO den strengen Anforderungen des Vollbeweises unterlag. Dabei erfordert die notwendige Überzeugung des Richters keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet. Aus revisionsrechtlicher Sicht bestanden keine Bedenken dagegen, dass das Berufungsgericht im Rahmen der ihm obliegenden tatrichterlichen Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen hatte, dass die Angaben des Klägers über seine Beschwerden insgesamt glaubhaft erschienen, zumal die von ihm geklagten Beschwerden von keinem der Sachverständigen letztlich in Zweifel gezogen worden waren. Bei dieser Sachlage konnte es nach freier Überzeugung zu dem Ergebnis kommen, dass der Verkehrsunfall bei dem Kläger eine HWS-Distorsion im Sinne einer Körperverletzung ausgelöst hatte.

 

Rz. 231

Insbesondere war das Berufungsgericht unter den gegebenen Umständen nicht verpflichtet, hinsichtlich des Umfangs der Beschädigungen der beteiligten Fahrzeuge und der sich daraus ergebenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen und sodann mittels eines biomechanischen Gutachtens der Frage nachzugehen, ob der Unfall geeignet war, eine HWS-Distorsion hervorzurufen. Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine Halswirbelsäulenverletzung verursacht hat, sind stets die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Die von der Revision herangezogene Auffassung, wonach bei Heckunfällen mit einer bestimmten im niedrigen Geschwindigkeitsbereich liegenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen, die im Bereich zwischen 4 und 10 km/h anzusetzen sind ("Harmlosigkeitsgrenze"), eine Verletzung der Halswirbelsäule generell auszuschließen sei, stößt in Rechtsprechung und Schrifttum zunehmend auf Kritik und wird insbesondere aus orthopädischer Sicht in Zweifel gezogen. Gegen die schematische Annahme einer solchen Harmlosigkeitsgrenze spricht auch, dass die Beantwortung der Kausalitätsfrage nicht allein von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, sondern daneben von einer Reihe anderer Faktoren abhängt, wobei unter anderem auch der Sitzposition des betreffenden Fahrzeuginsassen Bedeutung beizumessen sein kann. Nach den von den Instanzgerichten getroffenen Feststellungen erfolgte im Streitfall die Kollision, als der Kläger mit schräg nach rechts oben gewendetem Kopf nach oben blickte, um einen Blick auf die Lichtzeichenanlage zu werfen. Gesicherte medizinische Erkenntnisse zu der Frage, ob und in welcher Weise derartige Muskelanspannungen und Kopfdrehungen die Entstehung einer HWS-Distorsion beeinflussen können, sind bisher nicht bekannt. Unter diesen Umständen war nicht ersichtlich, in welcher Weise das beantragte Gutachten über die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung zu einer weiteren Aufklärung des Geschehensablaufs hätte beitragen können.

 

Rz. 232

Auch die Überzeugungsbildung des Berufungsgerichts, wonach die vom Kläger geklagten Beschwerden auf den Verkehrsunfall zurückzuführen waren, war aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Mit dem Nachweis, dass der Unfall zu einer HWS-Distorsion und damit zu einer Körperverletzung des Klägers geführt hat, steht der Haftungsgrund fest. Ob über diese Primärverletzung hinaus der Unfall auch für die Beschwerden des Klägers ursächlich war, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die sich gemäß § 287 ZPO beurteilt. Bei der Ermittlung dieses Kausalzusammenhangs zwischen dem Haftungsgrund und dem eingetretenen Schaden unterliegt der Tatrichter nicht den strengen Anforderungen des § 286 ZPO. Vielmehr ist er nach Maßgabe des § 287 ZPO freier gestellt. Zwar kann der Tatrichter auch die haftungsausfüllende Kausalität nur feststellen, wenn er von diesem Ursachenzusammenhang überzeugt ist. Im Rahmen der Beweiswürdigung gemäß § 287 ZPO werden aber geringere Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt, je nach Lage des Einzelfalles, eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (ausführlich dazu Senatsurt. v. 7.7.1970 – VI ZR 233/69, VersR 1970, 924, 926 f.).

 

Rz. 233

Diesen Grundsätzen, die in der Rechtsprechung seit langem geklärt sind, war das angefochtene Urteil gefolgt. Es war davon ausgegangen, dass zwar die Ergebnisse der Sachverständigengutachten für sich allein nicht zum Beweis der Kausalität ausreichten, jedoch weitere Umstände für sie sprachen (z.B. der enge zeitliche Zusammenhang der Beschwerden mit dem Unfa...

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