Rz. 178

§ 1666 BGB ist die einfachrechtliche Ausgestaltung des dem Staat nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG dem Kind gegenüber obliegenden Wächteramts.[597] Zugleich konkretisiert diese Norm die durch Art. 8 EMRK geforderte staatliche Achtung des Familienlebens.[598] Der Staat darf allerdings in das nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistete Elternrecht auf Pflege und Erziehung der Kinder nur eingreifen, wenn und soweit Gründe des Kindeswohls dies dringend gebieten. In diesem Fall ist jedoch stets der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.[599] Der staatliche Eingriff muss notwendig und zugleich "so gering, zurückhaltend und behutsam wie im Einzelfall nur möglich" sein.[600] Es sind also nur solche Maßnahmen zulässig, die zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung effektiv geeignet, erforderlich und auch im engeren Sinne verhältnismäßig sind. Die Erforderlichkeit beinhaltet dabei das Gebot, aus den zur Erreichung des Zweckes gleich gut geeigneten Mitteln das mildeste, die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigende Mittel zu wählen (zur besonderen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei auf der Grundlage von §§ 1666, 1666a BGB erlassenen einstweiligen Anordnungen siehe § 7 Rdn 6).[601]

 

Rz. 179

Ein Eingriff in den elementaren Kern der Personensorge in Form der Trennung des Kindes von seiner Familie ist nur dann verfassungskonform, wenn die Gefährdung des Kindeswohls nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen abgewendet werden kann, wie etwa durch familiengerichtliche Auflagen oder ambulante oder stationäre Hilfsmaßnahmen nach dem SGB VIII.[602] Praktisch sind insoweit vor allem die Einrichtung einer sozial-pädagogischen Familienhilfe und die Unterbringung eines Elternteils gemeinsam mit seinem Kind in einer Eltern-Kind-Einrichtung, seltener auch in einer Eltern-Kind-Pflegestelle von Bedeutung. Mit Blick auf den zentralen Handlungsmaßstab – der Wahrung des Kindeswohls – ist bei staatlichem Handeln zu prüfen, ob eine gegenwärtige oder unmittelbar bevorstehende Gefahr für das Kind existiert,[603] die eine erhebliche Schädigung des Kindes für sein körperliches, geistiges oder seelisches Wohl mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen lässt.[604] Eine mittel- bzw. langfristige Gefährdung des Kindeswohls begründet keine nachhaltige, akute Kindeswohlgefahr im verfassungsrechtlichen Sinne.[605] Je gewichtiger der zu erwartende Schaden ist, umso geringer sind die Eingriffsvoraussetzungen.[606] ­Allerdings genügt für die Anwendbarkeit des § 1666 BGB nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern.[607] Denn das Kind hat keinen Anspruch auf die bestmöglichen Eltern oder eine optimale Erziehung und Förderung.[608] Die sozialen Verhältnisse, in die ein Kind hineingeboren wird, müssen als schicksalhaft ebenso angenommen werden[609] wie die Tatsache, dass das Kind durch eine elterliche Entscheidung möglicherweise Nachteile erleiden wird.[610] Der Staat ist daher durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auch grundsätzlich weder ermächtigt noch verpflichtet, zu erzwingen, dass Eltern ihrem Kind die optimale Therapie zukommen lassen; dies gilt jedenfalls dann, wenn die aus Gerichtssicht optimale Therapie nur mittels einer unfreiwilligen Trennung von Eltern und Kind durchgeführt werden könnte.[611]

Vorgeburtliche Maßnahmen nach § 1666 BGB sind ausgeschlossen[612] und können auch nicht unter der aufschiebenden Bedingung der Geburt des Kindes getroffen werden. Auch ein Erörterungstermin nach § 157 FamFG kann frühestens ab Geburt des Kindes anberaumt werden,[613] da erst ab dann ein Sorgerecht entsteht.

 

Rz. 180

Bereits vor Inkrafttreten des FamFG war nach gefestigter Rechtsprechung dem Kind in Verfahren nach § 1666 BGB ein Verfahrenspfleger zu bestellen.[614] Der besonderen Schutzbedürftigkeit des Kindes in dieser Verfahrenssituation hat der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass nach § 158 Abs. 2 Nr. 2 FamFG in den Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB die Bestellung eines Verfahrensbeistandes als in der Regel erforderlich angesehen wird, wenn die teilweise oder vollständige Entziehung der Personensorge in Betracht kommt (vgl. § 5 Rdn 12).

 

Rz. 181

Mit zunehmender Fähigkeit des Kindes zur Selbstbestimmung reduziert sich seine Pflege- und Erziehungs- und somit seine Schutzbedürftigkeit. Daher werden die im Elternrecht verankerten Befugnisse mit zunehmendem Alter des Kindes zurückgedrängt, bis sie mit Eintritt der Volljährigkeit gänzlich erlöschen.[615] Entsprechend sieht auch der Wortlaut des § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB vor, dass die Eltern bei der Pflege und Erziehung des Kindes dessen wachsenden Fähigkeiten und Bedürfnissen zu eigenständigem verantwortungsbewusstem Handeln Rechnung zu tragen haben.

 

Rz. 182

Das Verfahren nach § 1666 BGB wird vom Familiengericht von Amts wegen eingeleitet, sobald es Kenntnis von Tatsachen erlangt, die die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1666 BGB erfüllen können. In der Regel erfolgt die Verfahrenseinleitung auf Anregung oder durch Gefährdungsmitteilung des Jugendamts nach § 8a Abs. 3 SGB VIII...

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