Rz. 108

Dieses Thema ist immer noch weitgehend tabuisiert; Gerichtsentscheidungen finden sich hierzu selten. Allerdings hat sich das BVerfG im Jahr 2007 mit einem Fall befasst, in dem sich ein vierjähriges Kind in einem Wachkoma – einem apallischen Zustand – befand. Die Eltern wollten ihr Kind nach fünfmonatiger Behandlung nach Hause holen, wo es unter ärztlicher Aufsicht durch Unterbleiben weiterer Ernährungs- und Flüssigkeitszufuhr sterben sollte. Aufgrund des Einschreitens behandelnder Ärzte beim Jugendamt bestellte das zuständige Familiengericht dem Kind eine Verfahrenspflegerin und entzog den Eltern im März 2007 die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Denn nach Abwägung des Elternrechts mit dem Recht des Kindes auf Leben und mit seiner Würde sei bei Abbruch der Behandlung eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen.[395] Das Oberlandesgericht entschied am 24.5.2007 entgegengesetzt[396] und stellte das Verfahren auf Entziehung der elterlichen Sorge ein. Weder eine missbräuchliche Wahrnehmung der Elternverantwortung noch ein schuldloses oder gar schuldhaftes Versagen der Eltern im Sinne des § 1666 BGB sei erkennbar. Ein Sorgerechtsmissbrauch ergebe sich auch nicht daraus, dass die Entscheidung der Eltern wahrscheinlich den Tod des Kindes zur Folge haben werde. Die Eltern holten das Kind am 4.6.2007 zu sich nach Hause. Auf den mit der Verfassungsbeschwerde der Verfahrenspflegerin vom 6.6.2007 verbundenen Antrag hin stellte das BVerfG mit Beschl. v. selben Tage die Wirksamkeit der amtsgerichtlichen Entscheidung vorläufig wieder her.[397] Die Verfassungsbeschwerde sei nicht offensichtlich unbegründet. Die somit anzustellende Folgenabwägung führe dazu, die amtsgerichtliche Entscheidung einstweilen wiederherzustellen, da ansonsten der Tod des Kindes zu erwarten sei. Als die Entscheidung den Eltern zuging, war das Kind bereits verstorben.

 

Rz. 109

Zu beachten ist hier, dass der grundsätzliche Vorrang des Sorgerechts der Eltern für diese einen gewissen Spielraum bei ihrer Entscheidung für und gegen den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung begründet.[398] Der Staat ist als Folge seiner bloßen Überwachungsfunktion auf die Nachvollziehbarkeit der Begründung und die ausreichende Berücksichtigung des Lebensgrundrechts des Kindes beschränkt. Ärzte haben die Entscheidung der Eltern bis zur Grenze des Sorgerechtsmissbrauchs (§ 1666 BGB) zu akzeptieren.[399] Nach geltender Gesetzeslage trifft Eltern auch keine Pflicht, den von ihnen erwünschten Behandlungsabbruch gerichtlich genehmigen zu lassen,[400] obwohl Eltern etwa für die geschlossene Unterbringung ihres Kindes eine gerichtliche Genehmigung (§ 1631b BGB) benötigen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass man bei all den Fragen zur Sterbehilfe für Kinder die für erwachsene Menschen bestehenden Grundsätze zum Behandlungsabbruch (Stichworte: Patientenverfügung und mutmaßlicher Patientenwille)[401] höchstens eingeschränkt übernehmen kann. Bei jüngeren Kindern entscheiden die Eltern für ihr Kind. Bei Kleinstkindern kann ein "mutmaßlicher Kindeswille" kaum herangezogen werden, weil das Kleinstkind mangels vorhandener Wertvorstellungen noch keinen solchen Willen bilden könnte. Dies führt dazu, dass man in gewissen Grenzen auf den Elternwillen oder auf "allgemeine Wertvorstellungen" abstellen muss. Man sollte in diesem Zusammenhang freilich nicht übersehen, dass es Selbsttäuschung wäre zu meinen, dass man nur dem Kind selbst und nicht auch der Familie und Gesellschaft ein schweres Los ersparen will.

 

Rz. 110

Im vorgestellten Fall, den das BVerfG in der Hauptsache aufgrund des Todes des Kindes nicht entschieden hat, sollte man sich klar machen, dass Apalliker mit Hilfe der heutigen medizinischen Apparate oft noch Jahre leben können. Sie sind folglich jedenfalls keine Sterbenden. Wenn der Arzt also hier die künstliche Ernährung einstellt, so leistet er nicht Hilfe beim Sterben, sondern Hilfe zum Sterben. Die Rechtsordnung gestattet allerdings letztere dem Arzt nicht,[402] sondern nur erstere: Das Grundleiden des Kranken muss nach ärztlicher Überzeugung unumkehrbar (irreversibel)[403] sein und einen tödlichen Verlauf angenommen haben.[404] Diese Wertung ist aufgrund des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung auch für das Zivilrecht verbindlich; die Zivilrechtsordnung kann nicht erlauben, was das Strafrecht verbietet.[405] Aufgrund des Sorgerechts der Eltern als Ausfluss ihres Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) wird man hier aber im Einzelfall weitere Grenzen zu ziehen haben, weil es nicht um die Entscheidung des Arztes, sondern um die der das nicht äußerungs- und entscheidungsfähige Kind in gewissem Maße im Willen vertretenden Eltern geht; daher kann sich im Einzelfall auch bei noch nicht eingetretenem tödlichen Verlauf die Anordnung des Behandlungsabbruchs durch die Eltern als nicht sorgerechtsmissbräuchlich erweisen.[406] Problematisch im dargestellten Fall des Wachkomas ist allerdings, dass – soweit ersichtlich – bislang medizinisch die fehlend...

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