Rz. 96

Die sorgerechtliche Beurteilung des Problems des Schwangerschaftsabbruchs[351] durch das minderjährige Kind ist diffizil.[352] Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich auch die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch zunächst als Ausübung elterlicher Sorge darstellt, so dass die Entscheidungsmacht – nur durch § 1666 BGB begrenzt – den Eltern zufällt. Ein minderjähriges Mädchen bedarf zum Schwangerschaftsabbruch daher grundsätzlich der Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters, und zwar auch dann, wenn sie nach ihrer geistigen und sittlichen Reife die Tragweite des Abbruchs erkennen kann. Die Befugnis der Minderjährigen zur Alleinentscheidung konkurriert mit dem elterlichen Personensorgerecht, dem der Vorrang gebührt.[353] Aufgrund des Grundrechtsdreiecks – Eltern, schwangeres Kind und Ungeborenes – müssen aber bei der Prüfung, ob die Entscheidung der Eltern das Wohl des schwangeren Kindes gefährdet – neben dem eigenständigen Schutzanspruch des nasciturus[354] – insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht des schwangeren Kindes sowie – je nach Einzelfall mit stärkerer oder schwächerer Ausstrahlungswirkung – sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit berücksichtigt werden. Die gilt umso mehr, als dem schwangeren Kind bei einem nur relativ indizierten Eingriff, mit der Möglichkeit erheblicher Folgen für seine künftige Lebensgestaltung, ein Vetorecht gegen die Fremdbestimmung durch seine gesetzlichen Vertreter zuzubilligen sein kann, wenn das schwangere Kind über eine ausreichende Urteilsfähigkeit verfügt.[355] Dies wird umso eher anzunehmen sein, je näher das schwangere Kind der Volljährigkeit kommt.[356] Ferner ist – oft ausschlaggebend – in den Blick zu nehmen, ob der Abbruch nach § 218a StGB indiziert ist. Soweit Letzteres der Fall ist, tritt der Schutz des ungeborenen Lebens zurück; denn § 218a StGB ist – auch unter Berücksichtigung der vom BVerfG an diese Vorschrift gestellten Anforderungen[357] – verfassungskonform[358] und man kann nicht über die Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften Zustände verändern, die das Strafrecht nach langer Diskussion und Überprüfung durch das BVerfG eingehend geregelt hat.[359]

 

Rz. 97

Eine Betrachtung entlang von Fallgruppen bietet sich an:[360]

Eltern und schwangeres Kind sind sich einig

Beide wollen eine Abtreibung

Ist die Abtreibung i.S.d. § 218a StGB indiziert, so stellt sie sich als kindeswohlkonforme Ausübung des Sorgerechts der Eltern dar, da der Gesetzgeber in diesen Fällen verfassungskonform den Schutz des nasciturus hintan gestellt hat.

Ist sie nicht indiziert, so erlangt dieser Schutz und der des schwangeren Kindes vor strafrechtlicher Verfolgung Übergewicht und die Zustimmung der Eltern stellt sich regelmäßig als Sorgerechtsmissbrauch dar. Bei nicht indiziertem Abbruch, aber keiner Strafbarkeit desselben wird man aufgrund der Notlage des schwangeren Kindes, vor der die Augen zu verschließen den Eltern kaum zugemutet werden kann, im Regelfall von kindeswohlkonformer Sorgerechtsausübung auszugehen haben.[361]

Beide lehnen Abtreibung ab

Hier kann ein Fall des § 1666 BGB höchstens vorliegen, wenn das Austragen eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes des schwangeren Kindes birgt und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann (§ 218a Abs. 2 StGB). Aber auch dies bedarf sorgfältiger Abwägung im Einzelfall, weil Eltern und schwangeres Kind hier zusammenstehen, also die Belastung gemeinsam in Kauf nehmen. Die Grenze ist dort zu sehen, wo das Austragen des Ungeborenen eine Lebensgefahr für das schwangere Kind birgt; hier wird eine Kindeswohlgefährdung umso eher vorliegen, je dringender die Lebensgefahr ist.[362]

Eltern und schwangeres Kind sind uneinig

Eltern wollen Abtreibung, das schwangere Kind nicht

Im Falle eines nicht indizierten Abbruchs liegt selbstredend eine Kindeswohlgefährdung vor. Ist der Abbruch dagegen indiziert, so greift § 1666 BGB nicht automatisch ein, weil die elterliche Sorge nicht vor dem 18. Lebensjahr des Kindes endet (§ 1626 Abs. 1 i.V.m. § 2 BGB). Allerdings müssen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des schwangeren Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen (§ 1626 Abs. 2 BGB). Zutreffender Auffassung zufolge muss daher im jeweiligen Einzelfall geprüft werden, ob sich die Nichtbefolgung des kindlichen Willens durch die Eltern als Sorgerechtsmissbrauch darstellt oder nicht. Ersteres wird umso näher liegen, je älter und reifer das schwangere Kind ist. Hier verbietet sich jede Schematisierung.[363] Die Streitfrage entschärft sich freilich insoweit, als eine zwangsweise Durchsetzung der Abtreibung durch die Eltern verfassungswidrig wäre, weil der Kern des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des schwangeren Kindes verletzt würde.[364]

Schwangeres Kind will abtreiben, die Eltern sind dagegen

Ist der Abbruch nach § 218a Abs. 2

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